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Jesper Juul: "Ich war ein furchtbarer Vater"

JesperJuul: Jesper Juul im Porträt
© Anja Kring
Seit drei Jahrzehnten ist Jesper Juul der einflussreichste Familientherapeut des Kontinents. Doch das Leben des Dänen pendelt zwischen Schmerz und Bewegungsunfähigkeit.

Jeden Morgen um halb acht hört Jesper Juul das Geräusch eines sich drehenden Schlüssels in seiner Haustür. Er lauscht dann den Schritten, die näher kommen, jeden Tag.

"Hej Jesper!", sagt die Frau, die seine Vorhänge beiseite zieht, das Fenster auf Kipp stellt, damit ein bisschen frische Luft von der nahen Ostsee hereinziehen kann, bevor sie dafür sorgt, dass der Mann in dem Krankenhausbett es verlassen kann. Denn allein aufstehen, das geht bei Jesper Juul nicht mehr.

Er, der bekannteste Familientherapeut Europas, der so vielen verzweifelten Eltern und Kindern persönlich und mit seinen Büchern geholfen hat, ist selbst auf Hilfe angewiesen. Von der Brust abwärts ist er gelähmt, er braucht den Rollstuhl, um sich fortzubewegen. Und das ist schon eine ganze Menge, denn nachdem er 2012 krank wurde, ähnelte er, wie er sagt, "kognitiv, emotional und körperlich mehr einem Baby als einem Erwachsenen".

Die schreckliche Diagnose

Im November 2012 hielt er einen Vortrag in Slowenien, als sein linkes Bein plötzlich nachgab und er zu Boden stürzte. Er fiel für zehn Tage in ein Koma, wachte auf und erhielt die Diagnose Transverse Myelitis - eine Autoimmunkrankheit, bei der das Rückenmark durch eine Entzündung blockiert wird.

18 Monate lang verbrachte er in einer Reha-Einrichtung auf Jütland, lernte tagsüber mit den Ärzten und Therapeuten wieder zu denken, zu sprechen, seine Hände zu gebrauchen und die anderen Teile, die nicht gelähmt waren. Nachts trauerte er um all die Dinge, die er verloren hatte.

Als er 2013 wieder schreiben konnte, machte er eine Liste dieser Dinge, irgendwann nach Nummer 80 hörte er auf. Jahrelang konnte er nach einem Luftröhrenschnitt nicht sprechen, fünf Mal wurde er deswegen operiert.

Juul geht es nicht gut genug für einen Besuch, er antwortet per E-Mail. "Vor einem Monat", schreibt er, "wäre nicht einmal das möglich gewesen." Er hatte einen Rückschlag erlitten, hatte neuropathische Schmerzen, verlor sein Langzeitgedächtnis, seine Sprache und die Fähigkeit zu schreiben, schon wieder. Die Erinnerung ist zurück, aber Journalisten empfangen, lieber im Moment nicht.

BRIGITTE: Welche Dinge fehlen Ihnen aufgrund Ihrer Krankheit am meisten?
Jesper Juul: Autofahren. Gehen. Freunde unterhalten. Und vor allem - reisen.

Im Ihrem neuen Buch "Das Kind in mir ist immer da", schreiben Sie: Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähl ihm von deinen Plänen. Was waren Ihre?
Ich wollte mit meiner Frau nach Kroatien ziehen. 2010 habe ich auf Istrien mein Traumhaus fertig gebaut, eigentlich wollten wir vor zwei Jahren dort hingehen, für eine Art Halb-Ruhestand.

Sie beschreiben in Ihrer Autobiografie den Moment, in dem Sie auf Istrien durch die Öffnung eines Tunnels ins Helle fahren, die Landschaft sehen, anhalten müssen und auf einem Felsen weinend zusammenbrechen.
Weil ich zum ersten Mal im Leben das Gefühl von Heimat hatte, von Zugehörigkeit. Dieses Gefühl versteht man erst, wenn man von ihm übermannt wird.

Warum leben Sie dann in Odder an der dänischen Ostseeküste und nicht in Ihrem Haus in Kroatien?
Das würde ich gern. Und wenn ich ein Millionär wäre, könnte ich es behindertengerecht ausbauen.

Sie haben über 40 Bücher geschrieben, sind einer der Besten und Beliebtesten in Ihrem Beruf - und trotzdem haben Sie in einem Interview vor einem Jahr gesagt, Sie seien ein armer Mann, die Krankheit habe Sie arm gemacht.
Das ist meine Realität. Meine Verleger unterstützen mich sehr, auch die Leiter der FamilyLab-Einrichtungen, bei deren Aufbau ich geholfen habe. Aber die Wahrheit ist: Ich muss sogar dringend mein Haus in Kroatien verkaufen, um mein Apartment in Odder behalten zu können. Sie könnten mir dabei helfen: Würden Sie die Homepage des Hauses abdrucken, www.santa-domenica.com? Vielleicht möchte ja eine Ihrer Leserinnen die Villa von Jesper Juul erwerben.

Am 18. April 2018 wurde Jesper Juul 70. Es ist ein spannendes Leben, das gefeiert wurde, ein glückliches nicht unbedingt, schon gar nicht an seinem Anfang. "Meine Mutter entpuppte sich von Beginn meiner Kindheit an als sehr besitzergreifend", schreibt er in seinem Buch, "ich war ihr kleiner Mann. Ich habe vom ersten Tag an gegen diese Rolle protestiert." Krankhaft sei ihr Kampf um seine Liebe gewesen, seinem Vater dagegen schenkte sie keine Beachtung. Bis zu dem Tag, an dem der ihr gestand, dass er sich verliebt hätte und sich trennen wollte. Sie ließ es nicht zu, die Kinder bräuchten ihn doch. Also blieb er, der Vater von Jesper und Peter Juul. Aber Jesper verzog sich, so oft es ging, in die Wälder um Ebeltoft, dem Wohnort der Familie.

Sie haben Indianergeschichten geliebt und sich ein Tipi im Wald gebaut, in dem Sie mehr Zeit verbrachten als zu Hause. Eine Flucht vor Ihren Eltern?

Definitiv. Die Atmosphäre war keine, in der man wachsen und gedeihen konnte.

Was dazu führte, dass Sie einerseits in steter Rebellion gegen Ihre Mutter
lebten. Und auf der anderen Seite eigentlich keinen Ärger machen wollten.

Das war der Beginn meines lebenslangen Interesses für den Konflikt zwischen persönlicher Integrität und Kooperation. Ich hätte auch die umgekehrte Strategie anwenden können, um aus meinem Schmerz Aufmerksamkeit zu generieren. Aber in einem Zuhause, in dem jeder einsam ist, gibt’s da nicht viel zu holen.


Ihr Vater fühlte sich gefangen in seiner unglücklichen Ehe, die er spätestens gegen seinen Willen führte, seit Sie drei waren. War er ein Vorbild, ein negatives?
Ich hatte mir selbst versprochen, dass ich seine Fehler auf keinen Fall wiederhole. Was ich dann in meinen beiden Ehen trotzdem getan habe.

Und zwar?

Ich war nicht skeptisch genug. Ich hätte bedenken müssen, dass Frauen ihre Partner oft anlügen.


Tun sie das?

Ja. Sie lassen uns wissen, dass alles okay ist, wenn es das in Wirklichkeit nicht ist. Und dann, zehn, vielleicht 15 Jahre später, sagen sie, dass sie unglücklich sind, und zwar in großem Stil, nicht wieder gutzumachen in dieser Beziehung. Und wenn man sie fragt, warum sie das nicht vorher gesagt haben, als noch etwas zu retten gewesen wäre, sagen sie: "Weil ich dich liebe und dich nicht verletzen wollte."

Anders als Ihre Eltern wurden Sie geschieden, sogar zweimal. Und Sie sagen: Trennung und Scheidung sind seit Ihrer Generation die Norm, die man akzeptieren sollte. Trotzdem gibt es diesen tiefen Wunsch nach der einen, der ewigen, unverbrüchlichen Liebe. Hatten Sie den nicht bei Ihren beiden Ehen?
Natürlich habe ich mir das auch gewünscht. Meine erste Ehe dauerte 20 Jahre, die zweite sogar 26 Jahre. Und in beiden Ehen galt: Ich habe die Scheidung niemals als Ausweg aus den Schwierigkeiten gesehen.

Die zweite Ehe wurde letztes Jahr geschieden, Suzana hat kroatische Wurzeln, durch sie hat Juul seine Liebe zu Istrien entdeckt, mit ihr hat er lange in Kroatien mit kriegstraumatisierten Kindern und Erwachsenen gearbeitet. Katja, seine erste Frau, hatte er 1971 mit 23 geheiratet. Als er 25 war, wurde er Vater. Er war tagsüber für den Sohn Nicolai zuständig, wenn Katja arbeiten ging, er selbst betreute in Århus jeden Nachmittag bis Mitternacht eine Jugendgruppe und begann seine freiberufliche Familienarbeit - mit einem damals revolutionären Ansatz, der heute Allgemeingut ist: Kinder als gleichwürdig anzusehen, ihre Bedürfnisse, ihre Wünsche und Meinungen anzuhören und zu respektieren. Etwas, das ihm selbst zu Hause nicht wirklich gelang.

Wie war der große Pädagoge Jesper Juul als junger Vater?
Furchtbar. Zumindest in Nicolais ersten vier, fünf Jahren.

Warum?
Weil ich streng mit ihm war und von ihm den gleichen Gehorsam eingefordert habe, den meine Eltern mir abverlangt haben. Und weil ich in Konflikten auf ihn mit der Weisheit eines dreijährigen Kindes reagiert habe. Seine Mutter hat versucht, mir das zu vermitteln, aber von ihr konnte ich das nicht annehmen.

Sondern?
Von Nicolai selbst. Eines Tag ist er auf eine Leiter gestiegen, hat mir direkt in die Augen geschaut und "Halt die Fresse!" geschrien. Von dem Tag an habe ich es besser gemacht. Seine Reaktion hat mir gezeigt, dass ich ihn nicht wirklich gesehen habe, sondern nur um meine Rolle gekämpft habe, irgendwo zwischen dem, was ich von meinen Eltern gelernt hatte, und meinem Wunsch, ein moderner Vater zu sein. Aber ich musste erst Nicolai sehen, wie er war, damit er mir erlauben konnte, eine Autorität in seinem Leben zu werden.

Nicolai kann sich nicht mehr daran erinnern, dass sein Vater schrecklich mit ihm gewesen sein soll. Juuls Sohn lebt mit seiner zweiten Frau in Thailand, er ist Koch,
die Leidenschaft für diesen Beruf hat er von seinem Vater geerbt, der mit 16 zwei Jahre lang als Kombüsenhilfe zur See gefahren ist. Das Vater-Sohn-Verhältnis nannte Nicolai im Magazin "Nido" "ein bisschen seltsam, aber sehr gut". Es funktioniere ohne große Worte, mit gutem Essen und Wein und schweigendem Einverständnis. Wenn Nicolai denn mal in Dänemark ist.

"Ich wollte die Fehler meines Vaters auf keinen Fall wiederholen"

Sie leben allein in Ihrer Wohnung in Odder. Fühlen Sie sich einsam?

Als ich hierher zurückgekehrt bin, war ich wirklich traurig und verzweifelt. Aber bisher konnte ich immer noch einen guten Freund anrufen, mit dem ich meine Verzweiflung teilen konnte.


Wir sprachen vorhin über gescheiterte Pläne. Haben Sie neue?

Bis auf das Frühstück koche ich meine Mahlzeiten selbst, mit Sachen, die ich online einkaufe. Ich liebe Kochen, ich will meinen Schmerz beherrschen lernen, damit ich mit meinem elektrischen Rollstuhl selbst einkaufen fahren kann. Und dann will ich wieder schreiben und unterrichten. Solange mich Studenten besuchen wollen, wird das möglich sein, sobald ich weniger Schmerzen habe.


Sie erzählten davon, was mit Ihrer Krankheit verloren gegangen ist. Gibt es auch etwas, das Sie gewonnen haben?
Nein, nichts. Kein bisschen.

Der Eltern-Coach

Jesper Juul, geboren am 18. April 1948 im dänischen Vordingborg, fuhr nach einer einsamen Kindheit mit 16 zur See, bevor er sich ab 1966 zum Lehrer ausbilden ließ. 2004 rief er das Projekt FamilyLab international ins Leben, das in neun europäischen Ländern Familien berät. Juul war zwei Mal verheiratet, hat einen Sohn und ist seit einer Erkrankung 2012 von der Brust abwärts gelähmt. Er lebt in Odder an der dänischen Ostseeküste.

Die Autobiografie
Wie wurde ein unglücklicher Junge zu Europas großem Familienretter? Offen berichtet Jesper Juul in "Das Kind in mir ist immer da - Mein Leben für die Gleichwürdigkeit" von seinen Erfolgen als Therapeut und seinem Scheitern in Beziehungen - und spart seine Krankheit nicht aus. Schönreden gilt nicht. Da bleibt Juul sich treu. (208 S., 16,95 Euro, Beltz)

Brigitte 09/2018

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