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In allen vier Ecken soll Liebe drinstecken

Freundschaftsbücher werden heute schon im Kindergarten verteilt - zum Schrecken aller Eltern. Denn sie müssen sie nicht nur selbst ausfüllen, sie offenbaren auch unerbittliche Wahrheiten.

In grauer Vorzeit, als man noch eine Woche warten musste, bis die nächste Folge "Timm Thaler" im Fernsehen kam, tauschten Schulkinder Poesiealben aus. Mit eingeklebten Lackbildchen und den üblichen altmodischen Verslein wie "Rosen, Tulpen, Nelken, alle drei verwelken.." Sehr zeitgeistig orientierte Mädchen wie meine Freundin Vanessa schrieben auch schon mal die Indianerweissagung der Cree "Erst wenn der letzte Baum gerodet..." hinein, die meisten blieben lieber bei "Sei wie das Veilchen im Moose, bescheiden, sittsam und rein".

Poesiealben wirken heutzutage so antiquiert, wie sie es damals bereits waren. Heute wird schon lange vor der Schulpflicht mit der Gründlichkeit eines Insektenforschers mit dem Einsammeln von detaillierten Erinnerungsdokumenten begonnen, und die Kleinen tauschen Bücher aus mit Titeln wie "Meine Grüffelo-Freunde" oder - was die Literaturwissenschaft ein astreines Oxymoron nennen würde - "Star Wars The Clone Wars: Meine Kindergartenfreunde".

Der Haken: Die Kinder können nicht schreiben. Also setzen sich Mutter/Vater mit dem Kind gemütlich hin, um morgens noch schnell vor der Kita den anwachsenden Stapel von Freundschaftsbüchern abzuarbeiten. Denn bald ist das Kindergartenjahr vorbei und Lilli oder Paul verschwinden in der Clone War Zone der Grundschule. Im Prinzip ist die Aufgabe einfach: Neben den üblichen biografischen Details werden einfache Dinge wie Lieblingsessen abgefragt. Trotzdem schnappt die Optimierungsfalle zu. In Zeiten professioneller Selbstdarstellung auf Xing, in der sogar in Bewerbungen Fehler als versteckte Vorzüge deklariert werden müssen, lässt selbst die Frage nach der Leibspeise Eltern zusammenzucken.

Obwohl es schnurzpiepegal ist, was Lilli in ein paar Jahren lesen wird, ohne einen Hauch von Erinnerung an das Kind mit der Zahnlücke, das da neben Yoda klebt.

Mein Sohn sagt: "Fischstäbchen." Ich sage: "Aber du magst doch Papas selbst gemachte Spätzle so gern ...?" - "Aber Fischstäbchen mag ich noch lieber. Mit Ketchup." Seufzend gehen wir zum nächsten Punkt über: "Meine Lieblingsserie". In der Tat habe ich schon Alben ausgefüllt, die sich ausschließlich nach dem TV- und Kinoverhalten der Kinder erkundigten - das Medium Buch ist sogar für manche Freundebücher nicht mehr zeitgemäß. "Yakari", sagt das Kind. Obwohl es zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch nie eine Folge gesehen hat. "Und was ist mit Kalle Wirsch, den hattest du doch immer am liebsten?" - "Nee, der ist doof. Hat Tim gesagt." Weiter im Takt, die Kita hat ja nicht ewig auf. "Meine Lieblingsband". Kurz hoffe ich, nachdem ich Band als "Gruppe von Leuten, die Musik machen" erklärt habe, dass wir an dieser Stelle einfach mal ganz subversiv "Berliner Philharmoniker" notieren könnten, die immerhin sein geliebtes "Peter und der Wolf" eingespielt haben. Aber das Kind sagt: "Giraffenaffen." Die sind zwar streng genommen keine Band, sondern ein Album, das übrigens unter Mitwirkung von Roger Cicero entstanden ist, aber gut.

Mein Sohn präsentiert sich als Convenience-Food-mampfender Zeichentrick-Junkie mit einer Vorliebe für angepassten Standard-Pop.

Ich habe bereits aufgegeben. Mein Sohn präsentiert sich als Convenience-Food-mampfender Zeichentrick-Junkie mit einer Vorliebe für angepassten Standard-Pop, ein williges Opfer der Konsumindustrie. Zeit, um endlich mit Kreativität zu punkten. Zuerst bei "Das mag ich gar nicht". Ich notiere in stillem Triumph: "Nagellack". In einem Freundebuch für größere Kinder stand hinter diesem Punkt noch in Klammern: "Meine streng geheim gehaltene Phobie". Phobie ja, geheim gehalten, nein. Bei jeder Frau mit Nagellack kreischt mein Sohn, als ob er Tippi Hedren in Alfred Hitchcocks "Die Vögel" wäre. Tipi Hedren trägt übrigens Nagellack, dessen Anblick ihn zum Heulen bringen würde, wenn er diesen Film zu sehen kriegte. Traumatisiert ist er ja schon, nach seinen Zeichnungen zu urteilen. Denn jetzt folgt das Highlight: das selbst gemalte Bild. Hier muss das Kind den Stift selbst in die Hand nehmen.

Beim Bild kann man als Mutter nicht einfach heimlich Fischstäbchen mit Sushi vertauschen. Das Kind malt eifrig bis an die Zähne bewaffnete Drachen und Piraten, die Kanonen abfeuern und mit Schwertern fuchteln - das alles in seiner Lieblingsfarbe: Schwarz. Endlich können wir uns zur Kita schleppen, nachdem die Seite aussieht wie das Zeugnis eines White-Trash-Wohnwagenbewohners mit Schützengraben-Trauma. Aber das passt schließlich vorzüglich zum Freundebuch-Thema "Clone Wars". Die übrigens "Clown Wars" heißen. In echt. Sagt mein Sohn.

Text: Meike Schnitzler Fotos: PR BRIGITTE MOM 02/2014

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