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Freiraum Wir müssen leider draußen bleiben

Freiraum: Kind möchte Tür öffnen
© Den Rozhnovsky / Shutterstock
Familie ist, wenn Kinder ihr Revier mit schmutzigen Socken markieren und zum Netflix-Schauen das Sofa besetzen. Und dazwischen: Verena Carl.

Als ich kam und sah, waren die Eroberer schon da. Sohn und Tochter thronten zwischen purpurroten Sofakissen, in der einen Hand den Controller der Playstation, in der anderen eine Packung Naschzeug, strategisch postiert im geografischen Wohnungsmittelpunkt zwischen Toilette, Kühlschrank und Ladekabel-Station.

Coole Selbstverständlichkeit von Kindern

Eigentlich hatte ich mich immer für den Prototyp einer lässigen Modern Mum gehalten, aber in dem Moment funkte überraschend ein Teil von mir dazwischen, auf den ich schon länger nicht mehr gehört hatte. Und so hörte ich mich loszetern: Was ihnen einfiele, sich so im Wohnzimmer auszubreiten? Zwischen meinen Büchern, meinen Kerzenständern, meinen Lautsprechern? Der Zehnjährige fand als Erster die Sprache wieder: "Gehört Papa denn nichts davon?"

Kinder machen sich ungefragt breit, erst in uns, dann in unserem Leben, das ist ihr gutes Recht. Auch wenn sie sich dabei manchmal benehmen wie Kreuzfahrtpötte, die meterhoch am Markusplatz vorbeibrettern, ohne Rücksicht auf Venedig. Das fängt schon ganz früh an. Gerade noch gerührt den ersten Herzschlag auf dem Ultraschallmonitor angeschmachtet? Schon chillte ein Drei-Kilo-Brocken auf meiner Harnblase und dachte gar nicht dran, sich auf den Weg ans Licht zu begeben. Mit zwei trug meine Tochter ständig bekleckerte Shirts. Nicht weil sie ihr Apfelmus nicht im Griff hatte, sondern weil Papas Schoß ihr Stammplatz beim Essen war. Da tropft schon mal Thai-Curry aufs Kleinkind. Das war auch die Phase, in der sie sich nachts im Schlaf ständig um sich selbst drehte, als wären ihre Füße Sekundenzeiger. Im Ehebett, während wir uns um sie herum drapierten und stundenlang reglos dalagen, um sie nicht zu wecken.

Gegen diese coole Selbstverständlichkeit ist man machtlos, da können Erziehungspäpste noch so laut nach Grenzen rufen. Dabei haben kleine Menschen so ein gutes Gespür dafür, wenn jemand traurig ist oder Nähe braucht. Nur nicht dafür, wenn er gern mal fünf Minuten Ruhe hätte. Ich glaube, es liegt an unseren Höhlenmenschen-Genen. Der gemeine Steinzeitler sehnte sich eher nach Wärme, Gewusel und Sicherheit als nach einem Einzelzimmer. Was ihn vermutlich nicht davon abgehalten hat, sich ständig mit dem Rest der Sippe um die Poleposition auf dem Bärenfell zu kloppen.

Intelligenz vererben

Glückliches Lebensgefühl

Eine Freundin von mir reagiert cooler auf die Familien-Belagerung, sie hat doppelt so viele Kinder wie ich und zehn Jahre früher damit angefangen. Und sie ist in einer Kuschelkommune aufgewachsen. Ich hingegen habe die ersten 35 Jahre meines Lebens sehr viel Platz für mich gehabt. Als Einzelkind im Einzelzimmer, als Dauersingle in der Zweiraumwohnung.

Aber vielleicht bin ich auch einfach nur neidisch. Wenn Kinder sich so ausbreiten, dann hat das ja auch was von einem glücklichen, leicht anarchischen Lebensgefühl, das bei uns mit zunehmendem Alter eher seltener aufkommt. Statt raumgreifend Spaß zu haben, machen wir uns eher am Ecktischchen dünne. Vielleicht stellt sich die Platzfrage vor allem für Mütter und Väter, die mal Pippi-Langstrumpf-Fans waren, aber über die Jahre vergessen haben, wie man mit den Füßen auf dem Kopfkissen schläft.

Aber es gibt Hoffnung, und zwar, seitdem sich unsere Tochter ein neues, breites Bett zum 13. Geburtstag gewünscht hat. Das hat alles verändert. Plötzlich braucht sie nicht mehr Raum als 1,40 mal zwei Meter plus stabiles WLAN und fühlt sich von Elternbesuch in ihrem Zimmer hart getriggert. Das ist ein bisschen traurig. Aber dafür ist wieder ein Platz auf dem Sofa frei geworden und ein Controller. Mein Sohn hat schon gefragt, ob ich mitspielen will.

Weiß sich zu schützen

Verena Carl entdeckte während der Lockdown-Phase, dass sich Reviere auch zeitlich abgrenzen lassen: Lässt man Teenager bis mittags schlafen, ist die ungestörte Schreib-Frühschicht im Wohnzimmer gesichert.

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BRIGITTE 19/2020

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