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Familienkolumne Meine Tochter aus der Krachmacherstraße

Familienkolumne: Mädchen turnt auf Sofa herum, während Mutter darauf sitzt und sich die Ohren zuhält
© fizkes / Getty Images
BRIGITTE-Autorin Eva Lohmann braucht als introvertierter Mensch viel Ruhe. Schwierig, denn ihr Kind ist sehr aufgeweckt und kann nicht gut allein sein.

Zum Glück ist Silvester noch etwas hin. Denn wenn es einen Tag im Jahr gibt, den ich wirklich nicht mag: Dann ist das Silvester. Diese Mischung aus erzwungener Gemeinschaft, betrunkenen, distanzlosen Erwachsenen und lauten Böllern ist für introvertierte Menschen wie mich die Hölle. Jahrelang habe ich mich an dem Tag schon nachmittags mit einem guten Buch ins Bett gelegt, die Vorhänge zugezogen und gewartet, bis es vorbei ist. Bis es endlich wieder ruhig ist.

Keine ruhige Minute mehr

Seit ich Mutter bin, ist es allerdings vorbei mit dem Im-Bett-Liegen, mit den Büchern und der Ruhe. Und zwar an 365 Tagen im Jahr. Wie es der Zufall will, ist mein Kind tatsächlich an einem 31.12. geboren. Als ob meine Tochter mir schon am allerersten Tag ihres Lebens zeigen wollte, dass in Zukunft nichts mehr sein würde, wie es war, platzte der kleine Silvesterknaller in genau diesen Tag hinein. Seitdem sind nun sechs Jahre vergangen – und seitdem ist es eigentlich auch nie wieder wirklich ruhig geworden.

Das ist natürlich keine Überraschung. Ich wusste schon vorher, dass ich mit so einem kleinen Wesen für ziemlich lange Zeit keine ruhige Minute mehr haben würde. Aber wie lebenswichtig Stille und Zeit für mich sind, habe ich erst verstanden, als all diese Dinge plötzlich nicht mehr da waren.

Natürlich liebe ich meine Tochter abgöttisch. Aber sie macht mich eben auch verrückt. Das Kind plappert mich von morgens bis abends voll, zupft an mir herum, will die ganze Zeit Aufmerksamkeit und raubt mir meine letzte Energie. Den ganzen Tag könnte sie von früh bis spät Dinge unternehmen, mit Menschen zusammen sein und Party machen. Anders als einige andere Kinder würde sie sich niemals alleine in ihr Zimmer setzen, um ein Bild zu malen oder ein Hörspiel zu hören. Alles, was sie tut, will sie mit mir gemeinsam tun. Sie ist wahnsinnig extrovertiert – und damit das genaue Gegenteil von mir. So erfrischend das manchmal sein kann, so verdammt schwer ist es auch für mich.

Gegensätze von introvertierten und extrovertierten Menschen

Um zu verstehen, was das Zusammenleben von introvertierten und extrovertierten Menschen so kompliziert macht, muss man sich bewusst werden, auf welch unterschiedliche Arten sie Energie gewinnen und verlieren. Introvertierte verlieren Energie, wenn sie viel mit anderen Menschen zusammen sind, egal, wie sehr sie sie lieben. Wollen Introvertierte ihre Energiereserven wieder aufladen, müssen sie dafür allein sein und sich auf ihre Gedanken konzentrieren können, ohne Anstöße von außen. Extrovertierte hingegen gewinnen ihre Energie genau anders herum: Sie schöpfen Kraft aus dem Austausch mit anderen Menschen und verlieren sie eher, wenn sie allein sind.

Ich also brauche Ruhe und Zeit für mich allein, um Energie zu schöpfen, meine Tochter braucht Ansprache und Gesellschaft. Und darin lag lange das Problem. Denn als Mutter habe ich von mir ganz selbstverständlich erwartet zurückzustecken. Und das auch eine ganze Weile lang getan. Aber, Überraschung: Energie ist eine endliche Ressource. Auch bei mir. Irgendwann war sie aufgebraucht. Und dann konnte ich nicht mehr.

Ich habe daraus gelernt, dass ich meine Energiereserven im Blick haben muss, um langfristig eine gute Mutter zu sein. Ich habe mir Freiräume geschaffen, sowohl ganz kleine als auch etwas größere. Und auch einige Freiräume, die auf manche Menschen so erschreckend riesig und maßlos wirken, dass sie sich heimlich fragen, warum ich überhaupt Mutter geworden bin. Ich sehe es in ihren Augen, dieses stumme Entsetzen, wenn ich davon erzähle, wie befreiend für mich die Zeit ohne Kind ist. Eine Mutter, so haben wir alle es gesellschaftlich gelernt, hat am allerliebsten mit ihrem Kind zusammen zu sein. Wenn sie das nicht ist – ist sie dann überhaupt eine "gute Mutter"? Auch ich selbst hatte solche Ansprüche an mich. Bis ich gemerkt habe, dass ich sie nicht permanent erfüllen kann, ohne mich dabei auf Dauer selbst zu verlieren.

Freiräume sind nichts für Anfängerinnen

Mein liebster und wahrscheinlich kleinster Freiraum steckt in meinem BH und ist aus Wachs. Ich trage eigentlich immer Ohrstöpsel mit mir herum, die ich sofort zur Hand habe, wenn die Familie um mich herum mal wieder aufdreht. So kann ich zwar da sein, aber mich gleichzeitig ein kleines bisschen wegbeamen. Ich kann sogar im gleichen Zimmer sein, in dem das Kind das Hörspiel auf volle Lautstärke gedreht hat.

Ein etwas größerer Freiraum öffnet sich, wenn ich das Kind stundenweise beim Vater lasse. Wenn ich mein eigenes Ding mache, spazieren gehe, schreibe oder ein Buch lesen kann. Ich weiß, dass das gerade jungen Müttern wahnsinnig schwerfallen kann. Dazu muss jeder seinen eigenen Weg finden, mir aber half und hilft immer noch ein ganz simpler Gedanke: Der Vater liebt das Kind genauso unendlich, wie ich es tue. Er wird genauso aufpassen, wie ich es tue. Er wird alles dafür tun, dass ihm nichts passiert. Und alles andere, was er anders macht als ich, wird das Kind nur lehren, auf wie unterschiedliche Art man sich durch diese Welt bewegen kann. Ein Geschenk eigentlich.

Und dann gibt es noch die unverschämt riesigen Freiräume. Die sind nichts für Anfängerinnen. Ich rede von langen Wochenenden und Ferientrips, die der Vater mit meiner Tochter anderswo verbringt. Zum Beispiel gehen die beiden, seitdem das Kind drei Jahre alt ist, jeden Winter gemeinsam Ski fahren. Ich war noch nie dabei. Dass meine Tochter überhaupt Ski fahren kann, weiß ich nur von Videos. (Auf diesen Videos sieht sie übrigens durchweg sehr glücklich aus.)

Ein Vorbild, das die eigenen Grenzen kennt

Ich bleibe in der Zeit allein zu Hause. Und tanke auf. Was ich tue, ist fast egal. Hauptsache, niemand stört mich dabei, ich kann in meinem eigenen Kopf bleiben und jeden einzelnen Gedanken zu Ende denken. Es sind Tage, in denen ich wiederfinde, was mir im Familienalltag verloren geht. In denen ich mich wiederfinde.

Und hier kommt mein Tipp für alle Mütter, die jetzt sagen: "Hört sich toll an, aber das könnte ich nicht." Als Mutter bin ich Vorbild für meine Tochter. Und was macht es wohl mit einem kleinen Mädchen, das miterlebt, wie seine Mutter es allen recht macht – außer sich selbst? Die keine Pausen einlegt, sondern versucht durchzuhalten, auch wenn es eigentlich schon lange nicht mehr geht? Das Mädchen lernt, dass man das eben so macht. Und wird irgendwann einmal selbst eine Frau sein, die es allen recht machen will. Wenn sie aber sieht, dass ihre Mutter die eigenen Grenzen kennt und verteidigt, wird sie sich, so hoffe ich, auch das abschauen. Dann sind die Freiräume, die ich heute für mich schaffe, vielleicht sogar so etwas wie eine Investition in die Zukunft meiner Tochter. Seitdem ich das verstanden habe, nehme ich mir meine Auszeiten ohne schlechtes Gewissen.

Es sind dabei auch die Feinheiten in der Sprache, die hier den Unterschied machen. Ich sage zum Beispiel nie: "Du singst hier schon seit einer halben Stunde, das nervt mich wahnsinnig." Sondern: "Ich bräuchte gerade ein bisschen Ruhe, könntest du vielleicht im Wohnzimmer weitersingen?" Also nicht: Du bist mir gerade zu viel, sondern: Mir ist das gerade zu viel. Eine kleine Verschiebung von Worten, aber eine große Veränderung in der Botschaft. Ich gebe dem Kind damit weder unterschwellig Verantwortung noch Schuld, sondern spreche über mich und das, was ich wünsche und brauche. Unsere Beziehung ist eine bessere geworden, seitdem ich einen guten Weg gefunden habe, über meine Bedürfnisse zu reden.

Sehnsucht nach der kleinen Tochter, die einst die Energie raubte

Es wird noch ein paar Jahre dauern. Aber irgendwann wird er kommen, der Silvesterabend, an dem meine Tochter mit ihren Freunden, Freundinnen und ohne mich feiert. Silvester ist für einen extrovertierten Menschen ja nicht der schlechteste Tag, um Geburtstag zu haben; schließlich ist da immer ordentlich was los. Und Feuerwerk gibt es auch. Sie wird sich voller Vorfreude auf eine dieser lauten, bunten, überfüllten Partys stürzen – und mich nicht mehr brauchen. Dann kann ich, wie früher, schon am Nachmittag in meinem Bett liegen und lesen, den Jahreswechsel verschlafen und das ganze Theater in aller Ruhe verpassen. Vielleicht tue ich das tatsächlich.

Vielleicht werde ich aber auch auf meinem Balkon stehen und in die Nacht hinaus meiner Tochter zuprosten, die irgendwo weit weg von mir feiert. Und vielleicht werde ich sie dann ganz fürchterlich vermissen. Meine geliebte kleine Tochter, die mich den ganzen Tag lang voll geplappert und mir die letzte Energie geraubt hat. Aber irgendwas ist ja immer.

Von seinem Kind angestrengt und genervt zu sein, weil es so anders ist als man selber: Darüber sprechen Mütter selten. Eva Lohmann, 41, aber wagt es – und hat in ihrem Buch noch sehr viel mehr über den Umgang mit Introvertierten zu sagen ("So schön still. Die Stärke introvertierter Kinder und Eltern", 240 S., 16 Euro, Rowohlt).

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