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Kinder bestrafen - muss das wirklich sein?

Kinder bestrafen - muss das wirklich sein?
© Suzanne Tucker / shutterstock
Kinder bestrafen, bedrohen und der ganze Mist: Es funktioniert zwar nicht, aber dafür fühlen Eltern sich wenigstens schlecht dabei, meint MOM-Autor Till Raether.

Das Kind hat etwas Verbotenes getan, und dann hat es gelogen. Das Kind hat im Keller einen Süßigkeitenvorrat entdeckt, den es offenbar für vergessen hielt, und im Laufe der Zeit hat es ihn dezimiert, oder, zu Deutsch, leergefressen. Die Süßigkeiten waren für die Einschulung seiner Schwester, aber das weiß das Kind noch nicht, als es sagt: "Nein, ich war das nicht. Ich weiß gar nichts von irgendwelchen Süßigkeiten im Keller."

Das Kind ist neun, und es leugnet erstaunlich glaubwürdig. Seine Eltern fangen zwischendurch an zu zweifeln: Haben sie die Süßigkeiten peu à peu längst verschenkt? Neulich selbst vorm "Tatort" weggeballert? Sonst wie den Überblick verloren?

Aber als das Kind erfährt, dass die Süßigkeiten für die Schultüte der geliebten Schwester waren, wandert ein Schatten über sein Gesicht, es wird schweigsam, nach dem Abendessen verschwindet es in seinem Zimmer, und beim Zubettgehen bricht es in Tränen aus und gesteht.

Geständige Kinder sind rührend und süß, "mildernde Umstände", sagt die Mutter später beim Wein. "Reuiger Sünder", sagt der Vater und nickt. Aber das Kind neigt dazu, anderen heimlich die Sachen wegzufuttern, es ist nicht das erste Mal, und dann schwindelt es, darum sind sich die Eltern einig: Strafe muss sein. Sie sprechen es sogar aus, genau mit diesen Worten, aber mit dicken, fetten Anführungszeichen. Ihnen ist klar, dass sie ein Zitat aus der Steinzeit der Schwarzen Pädagogik bemühen. Eins, das sie selbst noch gehört haben, aber eher von ihren Großeltern, die mit dieser Logik in den Schulen der Vor-Nazizeit aufgewachsen sind.

Die hausgemachte Wenn-dann-Erziehung

Aber, stimmt das? Muss Strafe sein, und wenn ja, was ist Strafe dann überhaupt? Die Eltern sind Freunde von mir, ich habe dutzendfach in ihrer Situation gesteckt.

Eine Freundin von uns, die Sonderschulpädagogin ist, sagt das Offensichtliche: Heute ist nicht mehr von Strafe die Rede, sondern von Konsequenzen. Kinder müssen lernen, dass ihr Handeln Folgen hat, und zwar unter Umständen unangenehme. Wenn sie sich zum Beispiel nicht an Regeln halten. Wie die, dass man nicht klaut und nicht lügt.

Wie viele Eltern meiner Generation, die ich auf Spielplätzen, Kinderfesten oder in Einkaufszentren beobachte, habe ich mir aus dem Gedanken mit den Konsequenzen eine leicht hausgemachte Wenn-dann-Erziehung gebastelt: Wenn du dich jetzt nicht anziehst, dann gehen wir nicht auf den Rummel. Wenn du jetzt nicht aufhörst, den Jungen mit der Schaufel zu hauen, dann gehen wir wieder nach Hause.

Man muss die Konsequenzen durchziehen

Einmal waren wir bei Freunden, das Kind regte sich über alles auf, warf den Kuchen runter und beschimpfte mich, und eigentlich wusste ich, dass es gerade erst aus seinem Kindergarten- Mittagsschlaf aufgewacht und deshalb noch nicht ganz bei Sinnen war, aber ich sagte: "Wenn du jetzt nicht aufhörst, dich so aufzuführen, dann gehen wir nach Hause."

Während die Worte meinen Mund verließen, schwante mir die Schattenseite der Wenn-dann-Pädagogik: Wenn man schon mit Konsequenzen droht, dann muss man sie auch durchziehen. Eigentlich wäre ich lieber geblieben. Aber das Kind fegte eine Schale mit Trauben vom Tisch und ließ sich auf diese unvergleichlich vieroder fünfjährige Art von meinem Schoß auf den Boden gleiten, eine Mischung aus Kraftlosigkeit, Überdruss, Abneigung und Aggression, und ich sagte: "Gut, das war’s. Wir gehen."

Das Kind war so verblüfft, dass es sich relativ zügig die Gummistiefel anzog. Die Freunde gurrten beschwichtigend und dachten, ich würde noch einknicken. Tat ich aber nicht.

Ich weiß noch, wie ich mit dem Kind durch den Regen lief, der herbstliche Nachmittag öde und ereignislos vor uns, wir beide dabei, die Konsequenzen unseres Handelns zu ertragen, und das Kind sagte, als es aufgehört hatte, vor sich hin zu schniefen, mit echtem Interesse: "Papa, was heißt denn 'sich so aufführen'?"

Ich verabscheue mich in diesen Momenten

Seit die Kinder älter sind, fällt es mir noch schwerer, sinnvoll über Konsequenzen zu sprechen. Zum Teil, weil sie es doch selbst wissen: Wer Süßigkeiten isst, die ihm nicht gehören, darf damit rechnen, anschließend keine weiteren Süßigkeiten zu bekommen, auch wenn die Schwester ein Eis kriegt. Zum Teil, weil ich hasse, was aus meinem Mund kommt, wenn ich von Konsequenzen rede: Wenn du dein Zimmer jetzt nicht aufräumst, darfst du heute Abend nicht mit fernsehen. Wenn du nicht aufhörst, den Ball gegen die Garage zu schießen, muss ich ihn dir wegnehmen.

Vielleicht liegt’s an meiner Betonung und meiner Wortwahl, aber ich verabscheue mich in diesen Momenten, denn: Das sind doch einfach nur glorifizierte Drohungen. Es kommt mir vor wie die gleiche mühsam zusammengelötete MacGyver-Erziehung, mit der ich die Kinder im Positiven dazu bringe, Dinge zu tun, die ich für richtig halte: Wenn ihr aufräumt, bestellen wir Pizza.

Ein seltsam willkürliches Belohnungs- und Drohungssystem, das mich im nächsten Schritt schnell wieder an die dunklen Kapitel der Vergangenheit erinnert. "Das tut mir mehr weh als dir!", schrie vor siebzig Jahren der Vater, der seinen Kindern den Hintern versohlte, und wo ist der elementare Riesenunterschied zu mir, wenn ich später überm alten Schwarzbrot mit Cervelatwurst am Abendbrottisch sage: "Ich hätte auch lieber Pizza bestellt, aber ihr habt ja nicht aufgeräumt"?

Die zwei Erziehungsschulen

Ganz vereinfacht gesagt, gibt es zwei Sichtweisen in der Erziehungswissenschaft. Eine, die sehr viel Wert auf Regeln und eine gewisse Art von Disziplin legt: "Jedes Kind kann Regeln lernen" von Annette Kast-Zahn ist ein Klassiker dieser Richtung. Der "Stille Stuhl" ist ein beispielhaftes Erziehungsmittel dieser Schule, bei der "Super Nanny" auf RTL auch gern als "Stille Treppe", auf der ein wütendes, aggressives Kind, das gegen die Regeln des Zusammenlebens verstoßen hat, zur Ruhe kommen soll. Was nirgendwo "Strafe" heißt, für mich aber immer so ausgesehen hat: Was ist ein "Stiller Stuhl", wenn nicht so etwas wie Arrest, und was ist Arrest, wenn nicht eine Strafe?

Die andere Erziehungsschule, die ihre Wurzeln in den Reformbewegungen der 60er-Jahre hat, lehnt derlei rundheraus ab: Der Kindertherapeut Wolfgang Bergmann äußert sich in "Disziplin ohne Angst" sehr abfällig über den "Stillen Stuhl" und schreibt stattdessen, dass gegenseitiger Respekt und das Vertrauen der Kinder nicht durch Ansagen und Regeln und Konsequenzen zu erreichen sind, sondern durch die unüberschaubare Vielzahl liebevoller, kreativer Handlungen zwischen Eltern und Kindern, also dem, was er "die Kultur" einer Familie nennt.

Thomas Gordon, dessen Klassiker "Die neue Familienkonferenz" schon im Untertitel das Versprechen birgt: "Kinder erziehen, ohne zu strafen", geht sogar noch einen Schritt weiter und lehnt selbst die Vorstellung von "gütiger Autorität" ab: Für ihn geht es darum, die Kinder "für die Mitwirkung an Kompromisslösungen" zu gewinnen. Durch Aufmerksamkeit, Ich-Botschaften, Geduld und Offenheit.

"Grenzen" ist so was wie ein Zauberwort in der Debatte, es klingt fast magisch, weil es suggeriert, dass Kinder und Eltern es leichter haben, wenn Eltern klare Grenzen setzen und den Kindern helfen, diese Grenzen zu respektieren. Aber, wie schreibt der Kinderarzt und Wissenschaftler Herbert Renz-Polster in "Menschenkinder", seinem "Plädoyer für eine artgerechte Erziehung": "Sobald bei der Erziehung das schlechte Gewissen, Motive wie Belohnung und Bestrafung, die Liebes- und die Machtfrage oder der eigene Frust ins Spiel kommen, wird es mit den Grenzen schwierig."

Oh, und wie schwierig es wird. Und wie groß der Frust ist, das schlechte Gewissen, das planlose oder zu planvolle Changieren zwischen Belohnen und Bestrafen.

Hilflosigkeit statt Autorität

Ich erkenne meine eigenen Schwierigkeiten immer an zwei Formulierungen. Wenn ich die aus meinem Mund kommen höre, weiß ich: Ich versuche zwar gerade, endgültig meine Autorität zu demonstrieren, aber das Einzige, was ich demonstriere, ist meine endgültige Hilflosigkeit.

Die Formulierungen lauten "Jetzt reicht’s!" und "Das war das letzte Mal, dass du ..." Die zweite ist mir zum ersten Mal so richtig aufgefallen, als ich bei einer Familienfeier meiner Tochter erklärte, es sei jetzt "aber wirklich" das letzte Mal gewesen, dass sie um den Tisch gerannt sei und den Kellner angerempelt habe. Mein Cousin lachte und sagte: "Das sag ich auch immer. Wetten, es war nicht das letzte Mal?" Natürlich nicht, denn wie hilflos ist der elterliche Versuch, so etwas wie Macht dadurch auszuüben, dass man etwas für beendet erklärt, worauf man im Grunde gar keinen Einfluss hat. Bei meiner Tochter kam nur an: Papa passt das nicht so ganz, aber er tut auch nichts dagegen. Und als sie dann tatsächlich einem Kellner die Kirschtorte vom Tablett fegte, sprang ich auf und sagte den anderen Satz, mit dem ich gern immer mal wieder meinen Erziehungsbankrott erkläre: "Jetzt reicht’s aber."

Die typischen Strafsätze sind Frustgeräusche

Jetzt ist aber wirklich Schluss, jetzt reicht’s aber, wenn du jetzt nicht aufhörst, dann gehen wir: Im Grunde sind das nicht einmal inhaltliche Erziehungsversuche, sondern nur Frustgeräusche, die einem entweichen wie Faulgase einem angeschwemmten Walfischkörper. Und in Wahrheit bin ich über mich frustriert, über meine Hilf- und Einfallslosigkeit, nicht einmal über das Verhalten der Kinder.

Um beim Beispiel zu bleiben: Ich zog meine Tochter vom Tisch ins Freie, und draußen angekommen, meckerte ich ein bisschen mit ihr, und sie hatte diesen sechsjährigen Gesichtsausdruck, der ganz klar sagt: Ja, stimmt, ist okay, ich lass das jetzt über mich ergehen, bisschen Ausschimpfe, aber das war’s mir wert, ich liiiiiebe Um-den-Tisch-Rennen. Dann, weil wir schon mal draußen waren, warfen wir Wegkiesel in den Zierteich, und ich ließ mir von ihr was Kranzähnliches aus Gänseblümchen flechten.

Wenn ich drohe, strafe oder hohl erkläre, jetzt würde dies oder jenes "reichen", komme ich am Ende immer an einen Punkt, an den ich auch ohne Umwege hätte kommen können. Das Kind, das ein schlechtes Gewissen hat, weil es gelogen hat, tröste ich, und die Strafe, die ich kurzschlussartig verhängt habe (Kein Eis! Kein Fernsehen! Kein Vorlesen!), erlasse ich ihm, weil ich erstens finde, dass es durch sein schlechtes Gewissen genug gestraft ist und es zweitens immer ein Vergehen gegen das ist, was Wolfgang Bergmann die "Familienkultur" nennt: Drei essen ein Eis, und einer guckt zu?

Wir waren nett verabredet und enttäuschen die Freunde, um durchzusetzen, dass wir "jetzt gehen", weil das Kind sich irgendwie "aufgeführt" hat? Nein, inzwischen finde ich, dass dadurch immer etwas Fremdes, unmenschlich Strenges entsteht, eine dumpfe, fast maschinelle Konsequenz, die nicht dazu passt, wie das Leben im Großen und Ganzen abläuft. Natürlich hat Handeln Konsequenzen, aber sie sind nie so klar und so einfach, wie man es als drohende Eltern vielleicht glauben möchte.

Und auch bei der Szene auf der Familienfeier: Warum bin ich nicht gleich rausgegangen, was spielen mit meiner Tochter, als ich merkte, dass die Situation sie genauso einengte und langweilte wie mich selbst, nur dass sie selbstverständlich nicht so versteinert, abgehärtet oder eben "diszipliniert" ist wie ich? Die Gänseblümchenkette hätte ich auch ohne Frust und Drohen und Streit und Kellnerunfall haben können.

Mit Kindern kann man's ja machen

Das Kind, das die Schultütensüßigkeiten seiner Schwester stahl, musste am Ende einen Teil davon mit seinem Taschengeld ersetzen. Das war keine Strafe, sondern vielleicht ein seltenes Beispiel für eine sinnvolle Wenn-dann-Geschichte.

Die Hilflosigkeit und der Frust, den wir trotzdem immer wieder empfinden, liegt nicht an den Kindern, an ihrem Verhalten, an ihren Grenzüberschreitungen, ihrer Disziplinlosigkeit, ihrer, positiv gesagt, unregulierbaren und unregierbaren Lebenslust. (Was genau betrachtet ist es, wenn nicht Lebenslust, wenn man sein Zimmer nicht aufräumen, Lärm machen, Dreck machen will und mehr Süßigkeiten essen, viel mehr, als einem zusteht?)

Die Hilflosigkeit und der Frust kommen aus mir selbst, aus dem Gefühl, in viel zu vielen Zwängen festzustecken, aufgerieben zu werden zwischen den Ansprüchen viel zu vieler: im Job, in der Familie, im unübersichtlichen Geflecht von Freundschaften, Nachbarschaften, anderen sozialen Gefügen, die zu Mühlsteinen werden immer dann, wenn ich eigentlich selbst nicht weiß, wer ich gerade bin, gern wäre und woher ich eigentlich meine Freiheit und meine Lebenslust nehmen soll. Wenn dann noch die Kinder nerven oder sich "aufführen": Dann kriegen sie halt die zerfledderte Wenn-dann-Keule und die halbherzigen Drohungen ab, denn meinem Chef, dem Finanzamt, der launischen Nachbarin brauche ich damit gar nicht erst zu kommen. Nur Kindern kommt man mit so was, und das ist vielleicht das deutlichste Signal, damit aufzuhören, die Dinge stattdessen mehr laufen zu lassen, mehr in positiven Handlungen statt in negativen Reaktionen zu denken: Wenn man merkt, dass man sich auf eine bestimmte Art nur deshalb verhält, weil man irgendwie denkt, mit den Kindern kann man’s ja machen.

keine Bildunterschrift
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© Brigitteonline
Text: Till RaetherEin Artikel aus BRIGITTE MOM, Heft 3/2015

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