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Erfahrungsbericht "Zum Geburtstag wünsch' ich mir eine zweite Hand"

Fehlbildung: Zum Geburtstag eine zweite Hand
© Michael / Adobe Stock
Das sagt Kathrins Kind zum Glück nur sehr selten. Denn auch mit nur einem Arm schafft die Fünfjährige, was sie sich vornimmt. Eine Mutter erzählt von ihrer Tochter Tilda.

Wir haben es beide sofort gesehen. Nach der Geburt hat die Hebamme unsere Tochter ganz schnell in ein Handtuch gewickelt und uns erst dann in den Arm gedrückt. Hinterher hat sie gesagt, sie sei selbst überfordert gewesen und wollte uns noch diesen Moment des Nichtwissens schenken. Dabei hatten wir eh schon gemerkt, dass Tilda links Unterarm und Hand fehlten. "Ich muss dir was sagen", hat mein Mann gesagt, der schräg hinter mir stand, und ich habe nur geantwortet: "Ich hab’s gesehen." Wir standen beide unter Schock.

Die erste Woche haben wir im Krankenhaus verbracht. Die Traurigkeit hat uns richtig überrumpelt. Was bedeutet das für ihr Leben? Wird sie Fahrrad fahren können und klettern? Wird sie gehänselt werden? Wie wird es in der Pubertät? Wir haben uns eingeigelt und geweint.

Wir wussten nicht, wie wir anderen davon erzählen sollten. Mutter und Kind wohlauf, eine solche Standardnachricht wollte mein Mann verschicken. Was für ein Quatsch! Stattdessen haben wir dann etwas in dieser Richtung geschrieben: "Tilda ist geboren und wir sind superglücklich. Sie hat uns überrascht mit einem verkürzten Unterarm und ist ansonsten ein kerniges Mädchen." Und haben es nur an die geschickt, denen wir es wirklich mitteilen wollten. Die Reaktionen darauf haben mich zu Tränen gerührt: Jemand hat von seiner Cousine geschrieben, die die gleiche Fehlbildung hat und trotzdem reitet, ein anderer von einem Bekannten, der mit zwei verkürzten Armen Trompete spielt. Es tat so gut, diese Geschichten zu hören!

Die Frage nach dem Warum

Natürlich hat mich auch die Frage nach dem Warum beschäftigt. Direkt nach der Geburt bin ich den Kalender durchgegangen, ob ich nicht irgendwann einen Virusinfekt hatte. Und dieser Ausritt in der neunten Woche, kann der solche Folgen gehabt haben? Inzwischen weiß ich, dass sich für 60 Prozent der Handfehlbildungen keinerlei Ursache finden lässt. Wahrscheinlich ist bei Tilda irgendwann in der Frühschwangerschaft ein Botenstoff nicht ausgeschüttet worden und deswegen der Arm nicht gewachsen. Das passiert halt in der Natur manchmal. Man kann es nur akzeptieren.

Ob ich lieber schon in der Schwangerschaft von der Fehlbildung gewusst hätte? Ich glaube nicht. Ich habe inzwischen Familien kennengelernt, die schon frühzeitig erfahren haben, dass ihr Kind eine Fehlbildung hat, und so vor die schwierige Entscheidung gestellt wurden, ob sie das Kind austragen. Bei mir waren alle Ultraschalluntersuchungen unauffällig und ich hatte eine sehr schöne Schwangerschaft. Nach der Geburt wurde ich vor vollendete Tatsachen gestellt. Im Nachhinein ist mir das lieber.

Als wir aus dem Krankenhaus nach Hause kamen, also ab Woche zwei, haben wir begonnen, nach vorne zu blicken. Wir haben beschlossen, den linken Ärmel nicht hochzukrempeln, sondern abzuschneiden und zu kürzen. Seitdem geht jedes Kleidungsstück – und sei es der teure neue Schneeanzug – erst mal zum Änderungsschneider. Und wir haben ab dem dritten Monat mit Physiotherapie begonnen, damit Tilda Entwicklungsschritte nicht überspringt und keine Schieflage entwickelt. Gekrabbelt ist sie zum Beispiel gar nicht, und als sie mit einem Jahr angefangen hat, zu laufen, hatte sie ständig eine blaue Stirn oder eine Platzwunde am Kinn, weil sie sich beim Fallen nicht abstützen konnte. Aber sie hat immer ihren eigenen Weg gefunden, solche Dinge zu bewältigen.

Jeder Mensch ist anders

Nicht nur durch Tilda, sondern auch durch andere Kinder mit Fehlbildungen, die ich kennengelernt habe, habe ich den Eindruck, dass gerade diese Kinder besonders charakterstark und ehrgeizig sind und auch kreativ. Sie haben so ein "Ich schaff das trotzdem" in sich drin. Mit einer Hand sind viele Dinge sehr anstrengend. Das fängt schon beim Anziehen der Socken an. Oder wenn es darum geht, eine Tüte Gummibärchen aufzumachen. Oder aufs Klettergerüst zu kommen. Natürlich ist Tilda dann häufig frustriert, wenn es nicht gleich klappt. Und wir Eltern brauchen viel Geduld, denn oft ist man versucht, ihr Dinge abzunehmen, gerade wenn es schnell gehen soll. Aber wir sind auch voller Bewunderung, wie sie solche Herausforderungen meistert.

Die Traurigkeit vom Anfang kommt nur noch in Wellen, vielleicht alle paar Monate, zum Beispiel wenn Tilda doch mal traurig ist, weil sie sich nicht wie andere Kinder am Klettergerüst entlanghangeln kann. Sie hat auch schon mal gesagt "Ich wünsch’ mir eine neue Hand zum Geburtstag", aber wir haben ihr von Anfang an vermittelt und betonen es immer wieder, dass jeder Mensch anders ist. Wer sagt denn, dass es normal ist, zwei lange Arme zu haben?

Tilda hat ihr Seepferdchen – sie durfte dafür Rücken- statt Brustschwimmen, damit sie auch die Richtung halten kann – und sie fährt mit einer Lenkhilfe aus dem Sanitätshaus Fahrrad, die wie eine Verlängerung am Lenker befestigt ist und auf der sie ihren Arm ablegen kann. Eine Prothese hat sie nicht, denn sie ist mit ihrem kurzen Arm bisher immer sehr geschickt gewesen. Mittlerweile haben wir eine elektrische Prothese beantragt, die sich über Impulse in den Muskeln steuern lässt. Wir hoffen, dass sie die noch vor der Einschulung bekommt, aber standardmäßig hat die Krankenkasse erst mal abgelehnt.

AMPU KIDS: Eine wichtige Stütze

Wir waren schon zweimal auf Sommerfesten des Vereins AMPU KIDS (siehe Interview unten), bald gehen wir das dritte Mal hin. Zu Anfang haben wir das gemacht, um uns mit anderen Eltern auszutauschen, aber natürlich ist es auch für Tilda wichtig. Sie genießt die Vielfalt und das Gefühl, nicht allein zu sein. Da gibt es Kinder mit zwei kurzen Beinen, mit einem kurzen Bein, mit zwei kurzen Armen, ganz ohne Arme.

In ihrem Alltag und in der Kita ist Tildas Behinderung selten Thema. Da kennen sie ja alle so, wie sie ist. Aber auf dem Spielplatz oder im Supermarkt gibt es schon manchmal Blicke. Manche Kinder fragen auch ganz direkt, wo denn die zweite Hand ist. Wie gut Tilda das wegsteckt, ist tagesformabhängig. Manchmal sagt sie, ich bin so geboren, aber manchmal ist sie auch genervt und versteckt sich. Oft stehe ich schon in Lauerstellung, wenn ich sehe, dass sich ein Kind auf den Weg zu ihr macht. Sie ist fünf Jahre alt, eine solche Situation muss sie nicht allein durchstehen, da bin ich an ihrer Seite und greife notfalls auch ein. Schlimmer als die Fragen der Kinder finde ich aber die Kommentare der Erwachsenen, zum Beispiel: "Sie kennt es ja nicht anders" oder "Sie hat aber so ein schönes Gesicht". Solche Floskeln kann ich echt nicht mehr hören.

Natürlich frage ich mich, wie es im Sommer wird, wenn sie mit 20 neuen Kindern in die Schule kommt. Oder später in der Pubertät. Aber ich hoffe, wir haben ihr so viel Stärke mitgegeben, dass sie gemeinen Sprüchen dann selbstbewusst entgegentreten kann. Eigentlich habe ich mir auch verboten, zu sehr in die Zukunft zu strudeln. Jetzt stehen die Themen von heute an, und sie sind wichtiger und spannender als die Probleme, mit denen wir uns in fünf Jahren vielleicht herumschlagen.

Im Interview: Gründerin von AMPU KIDS e.V.

Wenn ein Arm oder ein Bein fehlt, ist das oft nicht zu übersehen. Aber was bedeutet das für die Familien? Und wie verhält man sich ihnen gegenüber am besten? Andrea Vogt-Bolm, Gründerin von AMPU KIDS e.V. (ampu-kids.de) gibt Antworten:

BRIGITTE: Welche Familien betreuen Sie mit Ihrem Verein?

ANDREA VOGT-BOLM: Häufig solche mit Kindern, die angeborene Fehlbildungen haben. Und momentan haben wir leider auch relativ viele mit bösartigen Tumoren, was sehr bedrückend ist. Außerdem arbeiten wir stark auf dem Gebiet der Meningokokken-Sepsis, das ist eine Infektionskrankheit, aus der innerhalb von wenigen Stunden eine Sepsis mit Mehrfach-Amputationen entstehen kann, weil Gliedmaßen einfach absterben. Anders als viele denken, haben dagegen Unfälle, die Amputationen erfordern, nur eine geringe Bedeutung.

Wie genau begleiten Sie die Familien?

Bestenfalls nehmen sie – oft vermittelt über die Klinik – schon vor der Amputation Kontakt zu uns auf. In Gesprächen versuchen wir dann, den Weg, der auf sie zukommt, ein bisschen vorzuzeichnen und überlegen, wie es nach der Amputation weitergehen kann. Wichtig ist die Frage, was das Kind vorher gemacht hat und wie also die Reha ausgerichtet sein muss, um diese Dinge möglichst auch nach der Amputation weitgehend zu erhalten. Wenn es später um Prothesen geht, schreiben wir außerdem die Stellungnahmen für die Krankenkasse. Gerade bei Familien, in denen sich zum Beispiel durch eine Sepsis das Leben von einem Moment auf den anderen komplett verändert, ist natürlich auch psychologische Betreuung wichtig. Ich sage dann: "Wenn es euch gerade ganz schlecht geht, könnt ihr mich auch nachts anrufen". Davon wird häufig Gebrauch gemacht, und das ist gut so.

Viele denken: Amputationen sind nicht so schlimm, es gibt doch Prothesen …

Ja, und Kinder hören oft: "Dann kriegst du eine Prothese und wirst Star bei den Paralympics." Ich frage dann immer, wie viele Olympiasieger man denn in seinem Umfeld hat. Nicht jede:r – ob amputiert oder nicht – ist ja eine Sportskanone. Außerdem ist es nicht so, dass mit einer Prothese sofort alles gut ist. Die Versorgung mit Prothesen braucht Zeit. Anspruch und Wirklichkeit gehen da oft weit auseinander. Natürlich wollen auch die Eltern nach einer Amputation, dass alles schnell wieder so normal ist wie möglich. Aber ein Kind, das am liebsten Klavier spielt, braucht keine Hochleistungs-Sportprothese. Da muss man gemeinsam überlegen, was Sinn ergibt.

Wie verhält man sich denn gegenüber den Kindern und ihren Familien am besten?

Natürlich darf man nachfragen. Aber sachlich – also nicht mit einem "Oh Gott, was ist dir denn passiert?", dann kann die andere Seite auch sachlich antworten. Mitleid wollen die Betroffenen in der Regel nicht.

Brigitte

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