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Warum sich Mütter zu viel Druck machen

Warum machen sich Mütter so einen Stress: Mutter mit Sohn auf Feld
© goodmoments / Shutterstock
Nicht jedes Problem muss angegangen werden. Wenn wir uns weniger Druck machen, löst sich vieles von allein. Man braucht nur ein bisschen Geduld und Vertrauen, meint BRIGITTE-MOM-Mitarbeiterin Karina Lübke.

"Oha, das sieht ja toll aus! Das hat sich unheimlich positiv entwickelt! Da hast du die Spange bestimmt immer fleißig getragen!"

Mein Sohn und ich starrten die Kieferorthopädin mit offenen Mündern an. Er auf ihren Befehlt hin, damit sie den Platzgewinn der Zähne in seinem Unterkiefer begutachten konnte; ich, weil ich nicht fassen konnte, was ich eben gehört hatte. Ich schaute ihn an, er mich, mit einem langen Blick, in den sich freudige Überraschung und dann Triumph mischten.

Schließlich wussten wir beide, dass er die Spange nur höchst selten getragen, sondern meistens "verloren", "vergessen" oder "keinen Bock" gehabt hatte. Und dass dieser Termin heute hauptsächlich dafür da war, dass mal eine Person im Arztkittel mit entsprechender Autorität meckern und das ausbleibende Ergebnis anmahnen könnte. Und nun das!

Wir fuhren nach Hause, er selbstzufrieden, ich in meiner Besserwisserei erschüttert und nachdenklich. So, das hatte sich also einfach von allein zurechtgewachsen?! Obwohl das vorher alle Spezialisten ausgeschlossen hatten?

Das brachte ein erziehungsgeschäftliches Dilemma gleich auf den wunden Punkt: sowohl Fehlschläge als auch Erfolge sind oft unvorhersehbar, unverdient und stehen in keinem Verhältnis zu den vorhergegangenen Aufregungen und Anstrengungen. Ich beschloss, mich ab sofort zu entsorgen und uns beide weniger zu stressen.

Das schnelle Aufschlagen und Zuknallen von Zeitfenstern

"Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr" - theoretisch ist das Gehirn unendlich plastisch und bleibt lebenslang wandelbar. Doch in Hochleistungszeiten wie diesen, wo auf immer weniger Kinder immer mehr selbst ernannte Erziehungsberechtigte kommen, die sich um die Ausbildung ihrer späteren Rentenzahler sorgen, ist die dröhnende Begleitmusik modernen Familienlebens das schnelle Aufschlagen und Zuknallen von Zeitfenstern. JETZT ist der beste Zeitpunkt für ein Musikinstrument, für eine zweite Sprache, Haustier, Malkurs, Zahnspange, Sportart - oh! Schon wieder vorbei, verpasst, zu lange gewartet, tja, jetzt wird es mühsam.

"Wächst sich alles zurecht", beruhigen erfahrene Großmütter. Denen man nicht mehr glaubt, weil Google so viel mehr weiß.

Doch wie soll man Entscheidungen treffen und durchsetzen, deren Auswirkungen sich erst nach Jahren zeigen würden? Vielleicht auch gar nicht, da man die Alternative ja nie zu Gesicht bekommen wird.

Ist man lässig oder sträflich nachlässig, wenn man einfach mal mit den Schultern zuckt und sich entspannt? Wenn man das Kind in Ruhe lässt, das Talent, aber keine Lust auf Klavierüben hat, obwohl das neben musikalisch auch noch schlau machen soll? Muss man es und sich selbst dazu zwingen, obwohl man eher Hasen- als Tigermutter ist? Braucht die kleine Ballphobikerin eine Ergotherapie und das leichte Lispeln eine Logopädin? Was ist noch im Rahmen einer "normalen" Entwicklung?

Mediennutzung, Computerspiele und Internet sind außerdem ein neues weites Feld, auf dem unsere überwiegend analoge Generation ihren schutzbefohlenen Digital Natives Grenzen, aber auch Möglichkeiten der kompetenten Nutzung aufzeigen soll. Allein das kann einen total irre machen.

Früher gab es viele Kinder, allgemeingültige Erziehungsmethoden, Martinis bereits am Nachmittag, und man konnte sich Rat, Trost und Hilfe in der Familie oder in der Nachbarschaft holen. "Wächst sich alles zurecht!", beruhigten erfahrene Großmütter, die jetzt entweder tot oder fern sind, und denen man sowieso nicht glauben würde, weil Google so viel mehr weiß.

Heute bleibt die Kleinfamilienmutter damit allein. Je gebildeter, älter und erfahrener sie ist, desto mehr Sorgen macht sie sich: Sie weiß zu viel, schläft zu wenig, hat per Computer Zugang zu jeder Entwicklungsstörung der Welt und über lange Nachtwachen Zeit, um alle Symptome auf das eigene Kind zu beziehen. Wissen ist in diesem Fall nicht Macht, sondern Ohnmacht. "Jüngere Mütter sind sich vieler Risiken gar nicht bewusst", sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Michael Schulte-Markwort.

Irgendwann verliert fast jede Mutter die Nerven und den Glauben an ein Wachstumswunder. Kinder sind auch nur Menschen; und nicht unbedingt die besseren. Sie essen manchmal über Wochen nur Toast und Bananen. Sie drehen durch und werden plötzlich wieder vernünftig. Sie haben Angst vor Monstern, vor dem Haarewaschen und dem Tod - dann vergessen sie alles rückstandslos.

Dazu die immer wiederkehrenden Warzen durch Schwimmbäder, Läuse im Kindergarten, die permanenten Infekte, Hormonterror und Pickel in der Pubertät, die merkwürdigen Marotten und Moden, das Mobbing, die Ausraster: Ja, das alles ist tatsächlich zum Auswachsen! In einer Zeit, in der global vertraute Sicherheiten wegbrechen, scheint es für Mütter deshalb genauso wichtig wie für Kinder, auch ohne Gottvertrauen ein Urvertrauen zu entwickeln. Aber wie?

Es ist ein schwacher Trost, aber: Wenn die Aufzucht von Nachwuchs so kompliziert wäre, würde die Weltbevölkerung in den meisten Gegenden unter deutlich lebensfeindlicheren Bedingungen wohl nicht explodieren. Man sollte sich öfter vergegenwärtigen, wie Evolution funktioniert: Durch Versuche und Fehler, aus denen man bestenfalls lernt.

Doch beobachtet von Öffentlichkeit und Verwandtschaft ist es besonders schwer, als Verantwortliche erst einmal keine definitive Meinung oder schnelle Lösung zu haben. Einfach mal eine Entwicklung abzuwarten, ein nicht gerade lebenswichtiges Problem auszusitzen oder besser gleich auszuschlafen. Gucken, ob das Kind damit allein klarkommt. Von der eigenen Selbstwirksamkeit etwas abgeben, zugunsten der des Kindes. Das kostet Zeit und Geduld, die in dieser Gesellschaft weder vorgesehen ist noch honoriert wird.

Mütter als ungewollte Diktatoren

Mütter müssen lernen, im Kinderland der begrenzten Möglichkeiten zu überleben. Das macht sie oft ungewollt zu Diktatoren: Vertrauen ist gut - Kontrolle ist besser. Glücklich sind sie in dieser Rolle selbst nicht. "Eine Mutter kann nur so glücklich sein wie ihr unglücklichstes Kind", heißt es zu Recht.

Bei der Geburt installiert die Natur beim Durchtrennen der physischen Nabelschnur den Schutzinstinkt, einen emotionalen Rauchmelder, der häufig Fehlalarm schlägt, aber dafür notfalls auch Leben und Gesundheit retten kann. Man ist der Kapitän des Mutterschiffs, der erst von Bord und ins Bett geht, wenn alle friedlich schlafen. Man liebt und fürchtet so sehr wie nie. Und ja, man sieht dabei manchmal Klabautermänner. Dann braucht man keinen, der einem sagt, man möge sich einfach mal entspannen. Sondern einen, der dafür sorgt, dass man sich entspannen kann. Und zwar nicht, indem er der Mutter die Sorgen abspricht, sondern sie ihr abnimmt.

Langjährige Freunde, deren Kinder bestenfalls etwas älter sind als die eigenen, sind auch großartig: Man hat mitbekommen, was aus all den Problemen, die den Müttern endlose Sorgen und Gesprächsbedarf gemacht haben, geworden ist. Ob Längenwachstum, Babyspeck, zu kleine oder sich spät entwickelnde Geschlechtsteile, Pickel, Marotten, Wasserscheu, Kurzsichtigkeit, Phobien - eines Tages sieht man diese Kinder überraschend wieder, und aus den Problemfällen sind große, schöne, kluge, spannende, empathische, verantwortungsvolle und höfliche Menschen geworden, denen das Leben offensteht.

"Wenn manchmal die ganze Welt dem Kind das Gefühl gibt, ein Spinner und Außenseiter zu sein, schräg und bescheuert, ist das Beste, was man tun kann, nicht auch noch kritisch um es herumzuschleichen, sondern ihm wenigstens zu Hause das Gefühl zu geben, dass es mit all seinen Marotten und Problemen total normal ist. Und der Rest der Welt egal", sagte mir mal eine sehr kluge Freundin. Kinder orientieren und justieren ihr Gefühl von Bedrohung am Besorgtheitsgrad ihrer stärksten Bezugsperson.

Das beste Mantra: "Wer weiß, wozu es gut ist."

Wenn einen zwischendurch die Angst packt: schnell zwei Bier trinken und versuchen, Kinder als die schönste Nebensache der Welt zu betrachten. Als Meditationshilfe könnte man dazu Hyazinthenknollen ins Haus holen und zusehen, wie sie von ganz allein zu duftenden weißen, violetten oder rosa Blumen heranwachsen - einfach, weil alles dafür bereits in ihnen angelegt ist. Bestes Mantra dazu: "Wer weiß, wozu es gut ist."

Frauen, die auf Kinder starren, sollten lieber ihr Eigenleben stärken.

Die Fotografin Annie Leibovitz etwa hatte keine Bilderbuchkindheit. Da ihr Vater als Offizier der US Air Force arbeitete, war die ganze Familie ständig im Auto unterwegs, von einem Luftwaffenstützpunkt zum nächsten. Förderung von kindlichen Talenten gab es nicht. Aber durch den permanenten vom Autofenster gerahmten Blickausschnitt begründete sich im Vorbeifahren Leibovitz' besondere Sichtweise und spätere Karriere.

Es hilft, Krisen weniger als Herausforderung elterlicher Kompetenz aufzufassen, sondern als Entwicklungshelfer für die kindliche Persönlichkeit. Der alte, böse Kinderbuchautor, Vater und Illustrator Tomi Ungerer sagte in einem Interview: "Kinder mögen Angst. Sie lieben schreckliche Geschichten, weil sie spüren, dass die Welt nicht heil ist. Man muss Kinder traumatisieren, damit sie lernen, ihre Angst zu überwinden. Das ist wie eine Impfung für die Zukunft." Das nimmt etwas von der Sorge, unwiderruflichen Schaden anzurichten.

Frauen, die auf Kinder starren, sollten lieber ihr Eigenleben stärken, bei sich bleiben und sich in der Kunst üben, den Nachwuchs nebenbei groß werden zu lassen. Die beste Technik dafür ist eine Art kontrolliertes Danebensehen, so wie in diesen 3-D-Büchern. Man darf beim Heranwachsen von Kindern oft nicht zu genau auf Details schauen, damit unter all den verwirrenden Mustern das darunter liegende Bild plötzlich scharf und plastisch hervortreten kann. Keep calm and love on: einfach blindlings lieben, immer weiter. Irgendwann sind sie groß, und man selbst ist an ihnen gewachsen.

"Juckt mich nicht!", ruft mein Sohn gern auf Vorwürfe und Drohungen aller Art. Da kann ich noch viel von ihm lernen. Ich lächelte ihm im Rückspiegel zu. Er grinste breit zurück. Er trug sogar seine Zahnspange - in der Dose.

keine Bildunterschrift
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