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Eine Kollegin klagt an: "Das Problem in der Schule sind die Lehrer"

Eine Kollegin klagt an: "Das Problem in der Schule sind die Lehrer"
© Getty Images
Sigrid Wagner war selber viele Jahre Lehrerin und hat jetzt ein Buch darüber geschrieben, warum sie die meisten ihrer Kollegen für unfähig hält.
von Tina Epking (Interview)

Sigrid Wagner hat 20 Jahre lang unterrichtet und findet, dass die falschen Menschen aus den falschen Gründen Lehrer werden: Jetzt ist ihr Buch "Das Problem sind die Lehrer. Eine Bilanz" erschienen. Wir haben mit ihr über Alkohol im Lehrerzimmer, benachteiligte Jungs und Machtmissbrauch von Lehrern gesprochen.

Wieso haben Sie dieses Buch geschrieben? 

Ich war sehr lange Vertretungslehrerin und habe irgendwann festgestellt, dass in allen Lehrerzimmern dieselben Mechanismen ablaufen. Ich fand dort so viel Machtmissbrauch, Dominanz, Unzufriedenheit und Unmotiviertheit. 

Sigrid Wagner: Sie schildern, dass ein bestimmter Typ Mensch Lehrer wird. Welcher ist das?

Es sind in der Tat oft sehr oft unsichere, ängstliche Menschen. Jeder, der einen Elternabend erlebt hat, kennt das. Die, die Angst haben, aus der Schule zu kommen – die dort wieder hin wollen. Der, der am liebsten verbeamtet werden möchte, damit er lockerlassen kann. In der Regel sind das solche Menschen, die mit Armschonern und Knieschonern Fahrrad fahren und vor Menschenmengen stark schwitzen, weil sie so nervös sind.

"Extrem unsichere Lehrer bekommen jeden Tag den ganzen Frust der Klasse ab"

Sie sagen, Lehrer sind heute total frustriert. Warum?

Weil Kinder sofort merken, wen sie vor sich haben. Extrem unsichere Lehrer bekommen jeden Tag den ganzen Frust der Klasse ab. Die nehmen unter Umständen sogar noch mal schnell einen Schluck aus dem Flachmann, damit sie überhaupt den Klassenraum betreten können. Viele sind als Mensch überfordert, wollen aber mit aller Kraft den Lehrplan durchziehen, haben den Druck von Pisa, den Eltern und dem Direktor. Die kommen aus der Situation auch nicht mehr raus, es gibt ja niemanden, der ihnen hilft.

Halten Sie Verbeamtung für sinnvoll?

Nein, das ist die falsche Motivation. Das stärkt bei unsicheren Menschen den Gedanken, dass ihnen nichts mehr passieren könne. Das ist das Volvo-Phänomen: Die schlechtesten Autofahrer kaufen sich einen Volvo, weil sie sich darin sicher fühlen. 

Was ist die Lösung?

Die Verbeamtung abschaffen. Die hat im Lehrerberuf nichts zu suchen. Sie schafft nur Unruhe über Ungerechtigkeit im Kollegium. Ich wollte gar nicht verbeamtet werden. Ich war ja Vertretungslehrerin in zwölf Fächern und musste häufig wechseln. Das ist ein Zukunftsmodell, das ich sehe: So könnten Lehrer aus ihrem Trott herauskommen. Denn dieser Trott, gepaart mit Belastung, ist wirklich Stress. Das können nur ganz wenige Auserwählte. Aber hier kommen viele in den Schuldienst, denen einfach nichts anderes einfällt oder die der NC daran hindert, das zu studieren, was sie eigentlich möchten. Das Image des Lehrers ist nicht umsonst katastrophal, es müsste schon vor dem Studium eine bessere Auswahl getroffen werden. Wie zum Beispiel in Finnland, da werden nur die Besten Lehrer, die selbstbewusst sind und Persönlichkeit besitzen.

"Das hohe Ross, auf dem Lehrer sitzen, ist nicht mehr zukunftsfähig"

Was macht denn einen guten Lehrer aus?

Ein guter Lehrer bringt Leben mit in die Schule. Er sollte eine positiv ausgerichtete, belastbare Persönlichkeit mitbringen. Er hat idealerweise Erfahrung in anderen Berufen, ich habe auch als Verkäuferin gearbeitet und war sogar selbstständig. Alle drei Jahre sollte ein Lehrer mal in andere Berufe hereinschauen – oder parallel eine andere Ausbildung haben, damit man auch diese Erfahrung mit einbringen kann. Ich hoffe auf die vielen Quereinsteiger, die so etwas mitbringen. Das hohe Ross, auf dem Lehrer sitzen, ist nicht mehr zukunftsfähig. Es wird so viel über die Schüler gejammert, dabei gehört es zum Job, sich um sie zu kümmern und auch in den Ferien mal Unterricht vorzubereiten. Wir brauchen doch Menschen im Schuldienst, denen man etwas zutrauen und vertrauen kann. Die im Rahmen des Möglichen auf den Schüler zugehen, auch wenn er mal Blödsinn macht, die sagen:“ Was du da tust, das ist nicht in Ordnung, aber was du zu leisten im Stande bist, das steht auf einem anderen Blatt.“ Außerdem sollte ein Lehrer Talente entdecken und fördern, dabei darf er keine Unterscheidung vornehmen, was gute oder vermeintlich mindere Talente sind. Die Unterscheidung von „guten“ und „schlechten“ Kindern darf nicht sein.

Der Titel ihres Buches ist radikal. Es können doch nicht alle schlecht sein...

Es gibt natürlich auch sehr gute Lehrer, aber die haben einen schweren Stand. Weil sie in der Minderheit sind, und oft in der Schule keine Unterstützung finden oder sogar von Kollegen aus Neid gemobbt werden. Das Problem in der Schule sind tatsächlich die Lehrer. Da geben mir leider unzählige Analysen recht. Man möge mir die Radikalität verzeihen, aber es reicht einfach nicht mehr nur immer wieder darüber zu reden. Auch wenn es wehtut und viele Lehrer einen gefürchteten Paradigmenwechsel vornehmen müssen. Wir werden ohne Veränderung im Beruf des Lehrers das Schulsystem vollends vor die Wand fahren in Anbetracht der eine Million neuer Schüler bis 2025.

Sind Sie sehr für das Buch angefeindet worden?

Ich habe ja 2016 schon einen Artikel im Spiegel zu dem Thema veröffentlicht, deswegen bin ich einiges gewöhnt. Ich weiß, dass da noch einiges kommen wird, aber es musste jetzt einfach raus. Tatsächlich hat eine ehemalige Kollegin zu mir gesagt, sie sei erleichtert, weil es endlich mal einer aufgeschrieben hat. Beamte dürfen ja auch gar nichts aus der Schule heraustragen, deswegen müssen sie alles in sich reinfressen. 

Sie sind selbst anscheinend auch nicht zart besaitet, wurden zeitweise von den Schülern als "Colonel" bezeichnet. Muss man als Lehrer streng sein?

Man muss eine gewisse Souveränität ausstrahlen. Es ist wichtig, dass man klare Signale sendet. Ich hatte zu den Schülern immer ein kameradschaftliches Verhältnis, aber man muss Grenzen setzen. Im besten Fall genügt schon ein Blick. Ich konnte auch sehr streng sein, aber nur wenn es um Sicherheit der Kinder ging oder wenn es nichts zu diskutieren gab. Man braucht ein Standing, eine natürliche Autorität.

"Ich glaube, es ist ein hausgemachtes Problem, dass alle Angst vor den Eltern haben"

Kann man das lernen?

Schwierig. Ich glaube, man kann es oder man es nicht. Das muss man mit der Persönlichkeit mitbringen, man sollte Humor haben und positiv sein. Bei mir sollten die Kinder natürlich auch Spaß haben, ich wollte Wissen über Emotion verkaufen, wie ein guter Verkäufer. Das funktioniert einfach am besten und wenn man sich mit Hirnforschung beschäftigt, ist erwiesen, dass Lernen nur dann nachhaltig funktioniert, wenn an bereits Gelerntes über Emotionen angeknüpft wird. Unsere Struktur in den Schulen muss darauf vorbereitet werden, die Bereitschaft zu haben von den Besten zu lernen und sich in Teamarbeit auszutauschen. Die Kollegen müssen auch mal in andere Klassen gehen, andere Fächer unterrichten, sich untereinander helfen und vor allem als Team arbeiten. Dann würde vieles leichter, vor allem für die vielen Quereinsteiger, die auf Hilfe angewiesen sein werden.

Apropos Teamwork: Ist es heutzutage wirklich so schwierig, mit den Eltern zusammenzuarbeiten?

Ich glaube, es ist ein hausgemachtes Problem, dass alle Angst vor den Eltern haben. Die Abgrenzung ist falsch, Eltern spüren, wenn sie nicht willkommen sind. Ich muss als Lehrer klarmachen, dass wir zusammen das Beste für das Kind wollen. Ich habe nie erlebt, dass sich jemand über meine Noten beschwert hat, auch nicht bei Fünfen und Sechsen. Man kann natürliche hervorragende Elterngespräche führen, das ist nur eine Frage des Willens. Manche Kollegen sind einfach auch ungerecht und wollen bestimmte Kinder absägen, wenn sie Ihnen zu viel Arbeit machen. Dabei ist es meine Aufgabe als Lehrer, die Schüler zu unterstützen und das Problem des Schülers an der Wurzel zu packen. 

Aber gibt es nicht auch viele Eltern, die falsche Vorstellungen von den Leistungen ihrer Kinder haben?

Natürlich gibt es die auch. Mir ist da als Mutter – ich habe ja selber fünf Kinder – auch schon mal der Kragen geplatzt auf einem Elternabend, wenn die Eltern meinen nur hochbegabte Kinder zu haben. Da liegen oft Welten zwischen der Wahrnehmung von Eltern und Lehrern. Dann liegt es an einem Schulleiter, ein Klima zu erzeugen, dass alle wissen, wir freuen uns über Feedback der Eltern, aber es muss auch Grenzen geben. Und da sollte sich ein komplettes Kollegium einig sein. Vor allem aber sollte vorher von Seiten der Schule ein Vertrauen geschaffen werden, dass den Eltern das Gefühl gibt: "Hier sind Menschen am Werk, die ihren Job verstehen und im Interesse meines Kindes alles tun, was möglich und nötig ist.“ 

Sie schreiben auch darüber, dass viele Lehrer trinken, aber nicht darüber gesprochen wird. Ist es wirklich so schlimm?

Ja, das gibt es sehr häufig. Es gibt sehr viele Alkoholiker im Schuldienst, die in den Unterricht torkeln. Niemand hilft denen. Ansonsten wird vor allem gejammert und gelitten. Aber Lehrer hören einfach nicht auf, weil sie sich nicht trauen, etwas anderes zu machen. Das System hat sie fest im Griff, bei Kritik und Widerworten schlägt die Hackordnung im Lehrerzimmer gnadenlos zu.

"Debattenfähigkeit und selbstständiges Denken kommen in der Schule viel zu kurz"

Sie schreiben auch, wie der Wunschschüler aussehen soll...

Ich habe mit den unterschiedlichsten Schülern darüber gesprochen, alle waren sich einig: Der muss ordentlich angepasst sein und möglichst schleimen. Widerstand kann ich nur denen raten, die eine Mutter und einen Vater haben, die Anwälte sind (sie lacht). Die meisten Lehrer mögen es, wenn die Kinder sich anbiedern, ihm nach dem Mund reden. Das fällt vor allem Jungs schwerer. Debattenfähigkeit und selbstständiges Denken kommen deshalb in der Schule viel zu kurz.

Haben Jungen es denn wirklich schwerer?

Ja, das stimmt tatsächlich. Es gilt unter Lehrern so, dass man sich um einen Jungen doppelt so viel kümmern muss wie um ein Mädchen. Jungen erleben die Pubertät beispielsweise anders als Mädchen. Die wollen sich messen, die revoltieren, die werden teilweise aggressiv. Mädchen sind manchmal etwas weinerlich, aber machen das mehr mit sich aus. Die kann man eher trösten, das lässt sich leichter händeln. Jungs werden falsch angegangen, wenn die zwei Seiten schreiben sollen, schreiben die genau zwei. Mädchen schreiben 20, um zu punkten. Die kriegen dann die besseren Noten und die Jungs fühlen sich ungerecht behandelt und wie Loser. Ihnen wird auch öfter unterstellt, dass sie blau machen oder dass sie faul sind. Ich habe das selbst bei meinen Kindern erlebt, ich habe vier Jungs und ein Mädchen. 

Was tue ich denn nun, wenn mein Kind mit einem Lehrer Probleme hat?

Viele Eltern gehen heute oft sofort zum Anwalt, was ich verstehen kann, weil häufig nicht richtig mit ihnen umgegangen wird und große Ängste vorhanden sind, weil jedes Elternteil das Beste für sein Kind möchte. Ich kann Eltern aber nur raten im besten Fall direkt einen Lösungsvorschlag mitzubringen. Das habe ich selbst auch gemacht im Gespräch bei einem meiner Söhne. Nicht nur meckern, sondern sagen, was helfen könnte, welche Stärken er hat, wie man ihn am besten behandelt, im Idealfall versuchen, den Lehrer zu unterstützen. Vielleicht sagt er es nicht sofort, aber die meisten sind dafür dankbar. 

Eine Kollegin klagt an: "Das Problem in der Schule sind die Lehrer"
© Sabrina Adeline Nagel

Sigrid Wagner wurde 1955 in Goslar geboren. Sie studierte an der Universität Lehramt und war bis 2014 Lehrerin an allen Sekundarstufen in zwölf verschiedenen Fächern und in den drei Bundesländern Hamburg, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. 2016 erschien ihr Spiegel-Artikel "Der große Frust". Sie lebt mit ihrer Familie in Münster.

Eine Kollegin klagt an: "Das Problem in der Schule sind die Lehrer"
© Rowohlt

"Das Problem sind die Lehrer. Eine Bilanz"von Sigrid Wagner ist bei Rowohlt Polaris im August 2018 erschienen und kostet 12,99 Euro. 

Barbara

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