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Meine Nerven! Mütter über ihre schlimmsten Prüfungen

Manchmal müssen sich Mütter in zähe Raubtiere verwandeln. Fünf Frauen erzählen von dem Moment, in dem sie stark sein mussten.

Der Ausreißer

Stell dir vor, es wird dunkel - und dein Kind kommt nicht heim

Ich hatte zweieinhalb Stunden gesucht, ehe ich die Polizei anrief. War mit dem Fahrrad die Spielplätze in der Umgebung abgefahren, die Schulhöfe, bis zu einem nahe gelegenen See. Erst genervt, dann immer panischer. Meine drei Kinder hatten an dem Tag Besuch von zwei Freunden gehabt. Abends wollten sie noch mal kurz auf den Spielplatz, etwa 50 Meter von unserem Haus entfernt. "Gut", sagte ich, "dann mach ich Abendessen, und ihr seid in einer halben Stunde zurück."

Kurz darauf kamen die drei Mädchen angerannt: "Die Jungs sind weggelaufen!" Mein Sohn Alessio, damals fünf, und der elfjährige Francesco, der zu Besuch war. Ich ärgerte mich, nahm die Pfanne vom Herd und schnappte mir mein Fahrrad. Als die Polizei um neun kam, stellten sie erst unser Haus auf den Kopf - falls die Jungs sich nur versteckten. Danach kam die Hundestaffel und nahm Kleidungsstücke von Alessio mit.

Die Fahndung lief bundesweit, 10.000 Polizisten waren im Einsatz. Eine Spur verlor sich am See, Taucher wurden eingesetzt. Ich betete. Versuchte, meine beiden älteren Kinder zu beruhigen. Dabei wuchs mit jeder Minute die Angst, meinen Sohn nie wiederzusehen. Um Mitternacht brach ich zusammen. Ein irrer, völlig unwichtiger Gedanke schoss mir durch den Kopf: Denken die Polizisten jetzt etwa, ich habe als Mutter versagt, weil ich alleinerziehend bin?

Am nächsten Nachmittag, Alessio war seit 21 Stunden weg und ich saß hilflos auf der Polizeiwache, ging ein Funkspruch ein: Bei Kassel, mehr als 300 Kilometer von unserem Haus in Hamburg entfernt, waren zwei Kinder ohne Fahrkarte in einem Zug entdeckt worden - mein Sohn Alessio und sein Freund!

Ich kann nicht beschreiben, wie sich dieser Moment der Erleichterung angefühlt hat. Die Jungen waren am Abend vier Kilometer in einen benachbarten Stadtteil gelaufen und hatten dort versteckt am U-Bahn-Eingang hinter Büschen geschlafen. Alessio wollte nach Hause, als es dunkel wurde, aber er wusste nicht, wie.

Am nächsten Morgen folgte er Francesco in die U-Bahn, am Hauptbahnhof stiegen sie in irgendeinen Zug. Für Alessio war es ein Abenteuer. "Ich hatte solche Angst um dich", flüsterte ich, als ich ihn endlich wieder im Arm hatte. "Brauchst du nicht", erwiderte mein Sohn. "Wir sind um neun schlafen gegangen. Genau so, wie du immer sagst."

Und heute?

Weiß Alessio, sieben, dass seine Mutter trotzdem möchte, dass er zu Hause in seinem Bett schläft. Wenn er mal länger draußen spielt, bringt er ihr Blumen mit.

Alexandra, Hausfrau

Die Adoption

Stell dir vor, du wirst Mutter - in der Mittagspause. Am Telefon

Mein Handy klingelte in der Mittagspause, ich saß mit Kollegen draußen beim Essen. "Sind Sie in Deutschland?", fragte die Frau vom Jugendamt. Und: "Haben Sie Zeit?" Ich dachte, sie hat noch ein paar Fragen zu unserem Adoptionsantrag, der zwei Wochen vorher abgesegnet worden war. "Ich bin bei der Arbeit", sagte ich. "Können Sie die dann ab sofort niederlegen? Wir haben hier einen fünf Tage alten Jungen. Der liegt allein im Krankenhaus und braucht dringend Eltern." Ich hab alles stehen und liegen lassen, meinen Mann angerufen, konnte keine seiner Fragen beantworten, nur dass es ein Junge ist, gesund und allein. Bin zu meinem Chef, hab gesagt: "Ich bin gerade Mutter geworden, ich muss in Elternzeit."

Als wir ins Krankenhaus kamen, war da dieses Zimmer, leer bis auf ein Glasbettchen in der Mitte. Da lag er drin und hat geschlafen. Ich musste sofort weinen und die Krankenschwestern auch. Als ich ihn auf dem Arm hatte, wusste ich sofort: Er gehört zu uns.

"Wie soll er denn heißen? Er braucht einen Namen", sagten die Schwestern. Aber wir hatten ja nichts. Keinen Strampler, kein Fläschchen, keine Hebamme für die ersten Tage - und auch keinen Namen. Am Abend, zu Hause, noch ohne unseren Sohn, haben wir jeder fünf Namen auf einen Zettel geschrieben. Einer stand auf beiden Listen: Simon.

Am nächsten Morgen bin ich wieder ins Krankenhaus, in meinem Kopf war nur dieses Bild vom großen Zimmer mit dem kleinen Bett und nur ein Gedanke: Er soll nie wieder allein sein.

Ich darf mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn mich dieser Anruf nicht erreicht hätte. Wenn wir nicht da gewesen wären. Aber als mein Handy damals geklingelt hat, hab ich einfach funktioniert, wie in Trance. Nur einmal sind mir komplett die Nerven durchgegangen: Als ich zum ersten Mal vor dem Regal mit den vielen Sorten Milchpulver stand und keine Ahnung hatte, welches ich nehmen - und wie das alles werden soll.

Und heute?

Simon ist jetzt sechs Jahre alt. Vor drei Jahren hat er einen kleinen Bruder bekommen, Jakob. Und dann gibt es in der Familie noch ein Bärchen namens Edgar, eine Spieluhr, die "Guten Abend, gute Nacht" spielt - das allererste, was seine Mutter für Simon gekauft hat.

Birgit, TV-Reporterin

Der Promi im Kreißsaal

Stell dir vor, du liegst in den Wehen - und eine Schauspielerin kommt rein

Im Babyalbum meiner Tochter Mia klebt ein Bild der Schauspielerin Julia Jentsch, das ich aus einer Zeitschrift ausgeschnitten habe. Denn Julia Jentsch, die viele aus "Die fetten Jahre sind vorbei" und "Sophie Scholl - Die letzten Tage" kennen, ist der erste Mensch, der Mia zu Gesicht bekommen hat. Obwohl sie mit uns weder verwandt noch befreundet ist.

Ich lag kurz vor der Entbindung im Krankenhaus in der Badewanne, weil meine Wehen schon so stark waren, dass ich weder sitzen noch normal liegen noch sonst was konnte. Das Badewasser war gerade schon am Kaltwerden, ich natürlich nackt und mit den schlimmsten Schmerzen meines Lebens, da kam eine Hebamme rein und fragte, ob ich was dagegen hätte, wenn eine Schauspielerin bei der Geburt anwesend wäre. Die müsse demnächst in einem Theaterstück eine Gebärende spielen und wolle sich mal angucken, wie so was aussieht.

Der Name, den sie nannte, sagte mir in dem Moment nichts. Ich sah sofort eine 1,80 große Blondine in hohen Schuhen vor mir, perfekt gestylt, ich dagegen völlig aufgelöst. Trotzdem schoss mir durch den Kopf: Jetzt hab dich nicht so, das mag ja DEIN erstes Baby sein, aber du bist nicht der erste Mensch auf der Welt, der ein Kind kriegt. Ich stellte mir irgendwie vor, dass die Frau draußen auf dem Gang wartete, und wollte, na ja, nicht schwierig sein. Und sagte so was wie: "Okay, es ist ja für einen guten Zweck."

Im Kreißsaal hätte ich sie fast nicht bemerkt, Julia Jentsch ist ja alles andere als eine große Blondine, sondern klein und schmal, und sie trug die gleichen Sachen wie die Hebammen. Sie hat auch kein Wort gesagt und ist mir nur dadurch aufgefallen, dass sie nichts gemacht hat.

Mein Mann stand während der Entbindung hinter mir, aber sie stand so, dass sie zwischen meine Beine gucken konnte, und sie muss die Erste gewesen sein, die Mias Köpfchen gesehen hat. Trotzdem hat sie mir danach nicht mal gratuliert, was ich später, als ich drüber nachgedacht habe, schon ein bisschen schäbig fand.

In dem Moment war mir aber alles außer Mia egal. Irgendwie hätte ich gern mal mit Julia Jentsch gesprochen, wie das alles auf sie gewirkt hat. Und wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre, hätte ich am nächsten Tag vielleicht Blumen geschickt.

Und heute?

Michaela hat das Zadek-Stück nie gesehen, in dem Julia Jentsch ihre Entbindung nachspielt. Michaelas zweite Tochter kam drei Jahre später per Hausgeburt zur Welt. Überraschungsgäste waren diesmal nicht anwesend.

Michaela, Lehrerin

Das Geländer

Stell dir vor, dein Kind stürzt ab - aus dem fünften Stock ins Treppenhaus

Der Aufprall war dumpf. Als würde ein kleines, weiches Paket aufschlagen. Dann schnelle Schritte die Treppe hinunter und Schreie. Ich rannte ins Treppenhaus. Dort kam mir mein Mann entgegen, unsere elf Monate alte Tochter auf dem Arm. Sie weinte, aus ihrer Nase lief Blut. Viel Blut.

"Sie ist abgestürzt", sagte mein Mann. Er zeigte auf eine Stelle im Treppenhaus. Mein Kopf rauschte. Wir wohnen in der Endetage eines Altbaus. Vor der Wohnungstür endet das hölzerne Treppengeländer in der üblichen Empore. Mein Mann wollte die Schuhe holen, die vor der Wohnungstür lagen. Die Kleine kam hinterher, tapste an der Wand entlang. Stolperte. So unglücklich, dass sie zur gegenüberliegenden Seite kullerte - und durch die einzige Stelle rutschte, an der die Holzstäbe des Geländers weiter auseinanderstanden. Da fiel sie durch.

Mein Mann hatte versucht sie zu fassen, doch er griff ins Leere. Martha stürzte vier Meter tief, auf das nächste Stockwerk, knapp vorbei am Treppenschacht, der fünf Stockwerke nach unten geführt hätte. Während ich 112 wählte und präzise Auskunft gab, hämmerte es in meinem Kopf: Sie ist so gut wie tot.

Das werden die letzten Minuten mit deiner Tochter sein. Ich nahm sie auf den Schoß und versuchte, sie zu trösten. Sie kuschelte sich an mich. Tränen liefen meine Wange, das Blut meiner Tochter meinen Arm hinunter. Der Krankenwagen war schneller da als gedacht.

Der Notarzt untersuchte Martha und gab an seine beiden Kollegen weiter: "Es ist nur Blut. Keine Hirnflüssigkeit. Blut nur aus der Nase. Nicht aus Mund und Ohren." Dann: "Alles ist gut." Sie würden die Kleine im Krankenhaus noch beobachten.

Mein Mann fuhr mit, ich war damals selbst krank. Erst als ich das Martinshorn nicht mehr hörte, nahm ich meinen vierjährigen Sohn wahr. Er hatte die ganze Zeit in der Ecke gesessen und alles beobachtet. Jetzt krabbelte er schluchzend auf meinen Schoß.

Zu spüren war das Glück in diesem Moment noch nicht. Dafür war der Schock zu groß. Erst nachdem Martha mit meinem Mann unversehrt und bester Dinge aus dem Krankenhaus kam, konnten wir den Gedanken zulassen, dass wir an der absoluten Katastrophe vorbeigeschlittert waren.

Und heute?

Martha ist fünf und redet manchmal mit Schutzengeln. Ihr Bruder will Arzt werden. Ihre Mutter hat erst Kerzen in der Kirche angezündet und dann die Lücke im Treppengeländer geschlossen.

Nicole Lötters, Living-Redakteurin

Der Überraschungs-Sohn

Stell dir vor, du freust dich auf eine Tochter, und alles kommt ganz anders

Einen Namen für unsere Tochter hatten wir schon ziemlich früh. "Wenn's ein Mädchen wird: Marlene." Als mein Frauenarzt nach einer Ultraschalluntersuchung sicher war, dass es tatsächlich ein Mädchen ist, freute ich mich.

Anfangs war's mir egal, ob wir einen Sohn oder eine Tochter bekommen, aber dann stellte ich mich darauf ein, bald eine Mädchenmama zu sein. Nicht, dass ich jetzt losgegangen wäre und massenhaft rosa Strampler gekauft hätte - das meiste erbten wir sowieso von meiner Kusine, und die hat Jungs. Aber vor meinem inneren Auge sah ich mich mit meinem Kind, und das war ein kleines Mädchen. Mein Mann freute sich sowieso, ich glaube, jeder Vater wünscht sich Töchter.

Die Geburt ging sehr schnell, mein Mann hielt meine Hand. Dann war unser Baby auf der Welt - und die Hebamme sagte: "Sie haben's geschafft, herzlichen Glückwunsch, Ihr Sohn ist da!"

Ich dachte nur: Das ist unmöglich. Und bat die Hebamme: "Können Sie noch mal nachgucken? Das kann nicht sein." Monatelang hatte ich ein Kind vor mir gesehen, und es war nicht dieses. Das musste ein Missverständnis sein.

Ich fühlte: Enttäuschung. Trotzdem schaffte ich es, zu meinem völlig verdatterten Mann zu sagen: "Du gehst doch so gern in den Wald. Jetzt hast du einen Buben, der mitkommt."

Nach dem ersten Schock hat er sich sehr über seinen Sohn gefreut. Ich mich auch, er war ja gesund und wunderschön. Aber ich habe ein paar Tage gebraucht, um mich an ihn zu gewöhnen. Wir haben ihn dann Florian genannt. Der Name passt perfekt zu ihm.

Und heute?

Florians Eltern finden es toll, einen Sohn zu haben. Als er dreieinhalb war, hat er eine Schwester bekommen. Ihr Geschlecht blieb bis zur Geburt im Dunkeln. Sie heißt Marlene.

Andrea, Sozialpädagogin

Protokolle I Andrea Hacke, Stefanie Hentschel, Nicole Lötters, Angela Wittmann

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