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Depressionen: "Mama, warum spielst du nicht mehr mit mir?"

Depressionen: "Mama, warum spielst du nicht mehr mit mir?"
© Olga Pink / Shutterstock
Eine Mutter wird von einem Tag auf den anderen von einer schweren Depression gepackt. Ihre Kraft reicht nur noch dafür, sich um sich selbst zu kümmern - aber wer fährt dann Inlineskates mit ihrem Kind?

Der Tag, an dem der Elefantenschmetterling in mein Leben trat, war sonnig und klar. Nichts ließ darauf schließen, dass es der furchtbarste Tag in meinem Leben werden würde. Der Tag, der meinem damals achtjährigen Sohn die fröhliche Mama nehmen sollte, die er seine ganze Kindheit lang gekannt hatte.

Das schreckliche Tier erwischte mich an meinem Arbeitsplatz. Ich hatte mich dort schon länger nicht mehr wohlgefühlt, obwohl ich in meinem Traumberuf arbeitete; aber seit die Geschäftsführung gewechselt hatte, war die Stimmung im Unternehmen angespannt. Mein neuer Chef quälte mich mit täglichen Regeländerungen, brummte mir Termine auf, die sich kaum mit meiner Familie vereinbaren ließen, und stellte meine Arbeit infrage.

Ich war immer eine Kämpfernatur gewesen

Monatelang hatte ich das über mich ergehen lassen. Ich war immer eine Kämpfernatur gewesen - stark, selbstbewusst, ehrgeizig. Eine, die auch mal die Klappe aufreißt und sich vor andere stellt. Die lacht, wenn sie eigentlich weinen will, die eigene Sorgen verbirgt und stattdessen andere Menschen aufbaut.

Also versuchte ich, trotz des furchtbaren Drucks, beides zu sein: 100 Prozent leistungsfähige Mitarbeiterin und 100 Prozent Mutter. Denn mein Sohn Tom, das hatte ich mir früh geschworen, darf niemals den Kürzeren ziehen, nur weil ein Chef mit dem Konzept "Familie" nichts anfangen kann.

Mein Sohn ist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Wir sind eng verbunden, da kommt keiner dazwischen.

Das liegt auch an unserem schweren, gemeinsamen Start: Tom kam wegen einer zu spät entdeckten Schwangerschaftsvergiftung viel zu früh auf die Welt. Wochenlang saß ich auf der Intensivstation, kämpfte mit ihm ums Überleben und funktionierte, bis er alle nötigen Operationen überstanden hatte.

Erst dann erlaubte ich mir zu weinen, weil der erste Moment des Kennenlernens zwischen Mutter und Kind so ganz anders war, als ich mir erträumt hatte.

Und jetzt faselte dieser Chef, dass ich "einen Vertrag mit mir selbst machen" und mich entscheiden müsse, ob ich Kinder haben wolle oder einen Job.

Plötzlich kam eine riesige Welle auf mich zu

Auch am Tag meines Zusammenbruchs hielt er mir wieder einen seiner verächtlichen Vorträge. Doch ich hörte nur ein leises Rauschen - und sah plötzlich eine riesige Welle auf mich zukommen, die mich zu Boden warf und mir die Luft nahm.

Für einige Sekunden war es dunkel um mich herum. Als ich wieder zu mir kam, konnte ich nur noch weinen, ich krümmte mich und zitterte am ganzen Körper. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand ich wacklig und wortlos auf und verließ das Gebäude. Wie ich nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht mehr.
Was in den nächsten Tagen folgte, war schlimmer als alles, was ich mir je hätte ausmalen können. Ich weinte und zitterte, erbrach mich, hatte unfassbare Angst, Atemnot und Herzrasen, meine Brust war wie zugeschnürt. Ich fühlte mich schwach wie nie zuvor. Wege, die länger als 50 Meter waren, konnte ich kaum bewältigen. Ich war so unglaublich müde.

Stundenlang saß ich in der Küche und sah das dreckige Geschirr an. Gleich ... gleich räume ich es weg. Nur kurz ausruhen. Oft war ich mittags, wenn Tom nach Hause kam, keinen Schritt weitergekommen. Spielplatz, Gespräche mit anderen Müttern, basteln, vorlesen: All das hatte ich früher mit links - und Spaß - gewuppt. Jetzt fiel es mir unsagbar schwer.

Mein Hausarzt hatte mich zwei Wochen krankgeschrieben, aber mein Zustand verbesserte sich nicht. Ich nahm immer mehr ab, hatte einfach keinen Hunger mehr - nicht aufs Essen und nicht aufs Leben.

Wenn mein Sohn mich umarmen will, schreie ich

Keiner verstand mich. Tom verstand nicht, was geschehen war, wie auch, niemand in meinem Umfeld verstand es, ich selbst am allerwenigsten. Ich hatte nur diese Sehnsucht, mich endlich fallen lassen zu können und wie ein krankes Kind versorgt zu werden.

Dabei hatte ich doch selbst ein Kind zu versorgen. Mein Mann und beide Omas sprangen in dieser allerschlimmsten Phase zwar ein, aber ich war doch Toms Mutter, er brauchte mich!

"Mama, was ist mit dir? Warum spielst du nicht mehr mit mir, so wie früher?", fragte Tom, als ich wieder mal matt und starr im Sessel saß. Also erzählte ich ihm von dem bösen Mann im Büro, und dass alles zu viel für mich geworden war und ich jetzt krank sei. Tom nickte, drückte mich ganz fest und sagte: "Dann geh da nie wieder hin. Hier beschütze ich dich!"

Tränen rannen mir übers Gesicht, wieder einmal. Ich musste diesen Mist abschütteln, aber wie? Schließlich fand ich Hilfe bei einer Psychiaterin. Dort erfuhr ich schnell, was mit mir los war: schwere reaktive Depression und Burn-out. Dankbar nahm ich ihren Vorschlag an, zusammen mit Tom für mehrere Wochen in eine Rehaklinik zu fahren.

In einer Therapiestunde, in der ich ein Tier zeichnen sollte, das meinen Gefühlen entspricht, erschuf ich dann den Elefantenschmetterling. Er ist ein grauer, missgelaunter, fetter Kerl, der mir quirligen, fröhlichen Person, die durchs Leben flattern möchte, die leichten Schmetterlingsflügel geklaut hat. Leider eignen sie sich nicht dazu, einen Elefanten fliegen zu lassen, wie bunt sie auch sein mögen. Der Elefantenschmetterling ist mächtig und so furchtbar schwer, dass es wehtut, wenn er sich auf mir und meiner Seele breitmacht.

Wir sprechen das Wort "Depression" nicht vor Tom aus

So konnte ich meinem Sohn erklären, was mit mir los ist. Vor Tom sprechen wir das Wort "Depression" nie aus. Für ihn hindert der Elefantenschmetterling seine Mama daran, so zu können, wie sie möchte.

Er hat aber verstanden, dass das eine Krankheit ist, die auch andere haben. In der Reha hat er Kinder kennengelernt, deren Eltern ähnliche Probleme haben - die Erkenntnis, nicht allein zu sein, hat ihm sehr gutgetan.

Tom weiß auch, dass ich es nicht böse meine, wenn ich mal ausflippe. Mein Sohn ist ein fröhliches Kind, das schon morgens tanzt und singt und mich den ganzen Tag küssen und umarmen will. Ich mag das morgens aber nicht. Ich mag das eigentlich fast nie im Moment. Das Gefühl der Nähe erdrückt mich.

Manchmal werde ich ganz ungehalten, wenn er einen Annäherungsversuch macht, ich schreie und fuchtele vor ihm mit den Händen in der Luft herum. Dann zuckt er zusammen und guckt mich nur an, bis ich sage: "Es ist wieder gut, tut mir leid."

Das macht mich fertig, weil mir seine Nähe so wichtig ist. Es gibt Tage, da finde ich es total schön, wenn er kuscheln kommt. Oft sitze ich auch neben ihm und denke: Ich würde ihn jetzt so gern umarmen. Und gleichzeitig auch wieder nicht.

Dass Tom so stark sein muss, macht mich traurig

Auch wenn ich schroff reagiere, zieht Tom sich nie von mir zurück. Im Gegenteil: Wenn er das Gefühl hat, dass es mir nicht gut geht, steht er gleich parat. Ich denke oft, dass er sich für mich verantwortlich fühlt. Dass er glaubt, der Starke sein zu müssen.

Es macht mich furchtbar traurig, dass Tom das erleben muss. Ich wollte immer eine Mutter sein, die mit ihrem Kind über Tisch und Bänke geht, die quirlig ist und verständnisvoll. Ich würde es so gern genießen, wenn mein Sohn mich drückt. Aber Freude ist ein Gefühl, das ich nicht mehr empfinden kann.

Wenn ich abweisend bin, merke ich Tom an, dass er sich zwar nicht freut, hoffe aber, dass er nicht richtig leidet. Tom wird auch psychologisch betreut, angeblich spricht er nie darüber. Ich hoffe sehr, dass er nicht irgendwann, wenn er erwachsen ist, beim Therapeuten sitzt und sagt: "Ich hatte eine Scheißkindheit."

Manchmal gelingt es mir heute, den Elefantenschmetterling zu verscheuchen

Wenn der Elefantenschmetterling mal wieder auf meiner Brust landet, brauche ich nun gar nichts mehr zu sagen. Vielleicht sehen mein Mann und mein Sohn es an meinem Blick, jedenfalls bemerken sie ihn manchmal schon, bevor ich ihn selbst flattern höre. Manchmal bleibt er nur Stunden, manchmal Tage, manchmal schaffe ich es sogar, ihn sofort zu verscheuchen.

Gemeinsam versuchen wir, ihn mit Geduld, Ruhe und Liebe zu bekämpfen. Ich habe gelernt, dass ich ab und zu eine Auszeit brauche, und meine Familie hat gelernt, das zu akzeptieren. Mittlerweile kann ich es ganz gut einschätzen, wenn mir etwas zu viel wird.

Dann kann es zum Beispiel passieren, dass ich zu Tom sage: "Ich schaffe es heute nicht, dich zum Training zu fahren." Natürlich ist er dann enttäuscht, aber da er weiß, was mit mir passiert, wenn ich mich überfordere, sagt er: "Okay, dann ist es halt so." In diesen Momenten bin ich froh, dass er kein Kleinkind mehr ist, das die ganze Zeit betüddelt werden muss.

Ich wünsche mir von Herzen, irgendwann wieder eine Inlineskate-Tour mit meinem Sohn machen zu können. Das ist sein großer Wunsch, aber dafür bin ich leider immer noch viel zu schwach und zu antriebslos. Schon die Skates anzuziehen, ist unendlich mühsam für mich, und spätestens nach 200 Metern geht mir die Luft aus.

Ich hoffe, dass ich es bald schaffe, die Krankheit besser in den Griff zu bekommen und nicht erst dann, wenn Tom längst keine Lust mehr auf seine Mama hat.

Am meisten aber bete ich dafür, dass mein Kind trotz allem glücklich ist. Und den Elefantenschmetterling irgendwann vergessen kann.

Interview mit Psychologie-Professorin Silke Wiegand-Grefe

Wenn Mama oder Papa depressiv werden, leiden die Kinder immer mit. Sie fühlen sich schuldig oder haben das Gefühl, den kranken Elternteil beschützen zu müssen. Wie man Kinder dennoch davor bewahren kann, mit in die Traurigkeit gezogen zu werden, erklärt uns die Psychologin Silke Wiegand-Grefe.

Silke Wiegand-Grefe
ist Professorin für Klinische Psychologie an der Medical School Hamburg. Darüber hinaus ist sie Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft "Kinder psychisch erkrankter Eltern".
© Privat

BRIGITTE MOM: Was macht das mit Kindern, wenn Mama depressiv wird und plötzlich nicht mehr die Gleiche ist?

Silke Wiegand-Grefe: Daraus entstehen Verunsicherung und Angst. Das Kind macht sich Sorgen um die Mutter, weil es nicht genau einordnen kann, was mit ihr los ist. Es hat aber auch Angst, weil ihm die Mutter verloren gehen kann. Diese Kinder sind häufig sehr einsam und fühlen sich mit der Situation alleingelassen, weil psychisch kranke Eltern oft sehr mit sich selbst beschäftigt sind und dadurch nicht mehr richtig ansprechbar.

Versuchen diese Kinder deshalb, besonders lieb zu sein?

Ja, denn wer Angst hat, klammert. Das kann auch umgekehrt für die kranken Eltern gelten. Häufig sehen sie ihre Kinder dann als die einzig Guten in einer bösen Welt. Kinder sind meist noch nicht in der Lage, sich zu lösen und eigene Wege zu gehen. Sie werden sehr von der Erkrankung bestimmt. Zumal sich abzulösen auch Schuldgefühle machen kann. Die Kinder haben dann das Gefühl, dass sie dafür verantwortlich sind, wenn Mama ausrastet, weil sie nicht lieb genug waren.

Wie lässt sich das auffangen?

Offenheit ist das Allerwichtigste. Die Depression muss thematisiert werden, damit die Kinder Gelegenheit haben, all ihre Fragen stellen zu können. Wenn der betroffene Elternteil das nicht mehr selbst leisten kann, brauchen Kinder eine andere vertrauensvolle Bezugsperson. Das kann auch jemand außerhalb der eigenen Familie sein.

Ist ein offener Umgang mit der Depression denn auch bei kleineren Kindern sinnvoll?

Kinder verstehen in jedem Alter, dass irgendwas nicht stimmt. Schon Kleinkinder merken, wenn ihre Mama traurig ist, dann kommen sie angekrabbelt und gucken, was los ist. Je nach Alter können Kinder die Gründe natürlich besser oder schlechter verstehen, aber die Wahrnehmung beginnt sehr früh. Deshalb sollte man auch schon Drei- oder Vierjährige altersgerecht darüber aufklären, dass Mama manchmal krank ist. Und dass das nicht böse gemeint ist und sie nicht schuld daran sind. Kinder entwickeln früh ein Verständnis vom "Aua-Haben", von Krankheit also.

Info und Adressen: Wer hilft im Notfall weiter?

Wichtiger Schritt im Kopf für Betroffene und Angehörige: Auch wenn man sie nicht sehen kann, ist Depression eine Krankheit und kein Zeichen von Schwäche oder persönlichem Versagen. Sie gehört behandelt wie andere Krankheiten auch - suchen Sie sich deshalb unbedingt professionelle Hilfe. (Und alle anderen lassen Sätze wie "Jetzt reiß dich mal zusammen" bitte bleiben - und bieten stattdessen ihre Unterstützung an.)

Erste Hilfe Wenn Sie Anzeichen einer Depression bei sich bemerken, kann die erste Anlaufstelle der Hausarzt sein. Ansonsten helfen auch psychologische oder soziale Beratungsstellen oder Krisendienste.

Liste nach Postleitzahlen geordnet: www.deutsche-depressionshilfe.de

Telefonseelsorge: 0800/111 01 11 oder 0800/111 02 22

Psychotherapeutische Hochschulambulanz, Medical School Hamburg, Angebot für Familien mit psychisch kranken Eltern, das alle Familienmitglieder im Blick behält und berät. Tel. 040/361 22 64 88 oder online www.medicalschool-hamburg.de

Mehr zum Thema bei der Bundesarbeitsgemeinschaft "Kinder psychisch erkrankter Eltern" unter www.bag-kipe.de

Brigitte MOM 03/2014. Protokoll: Andrea Benda

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