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Will ich wissen, ob mein Kind behindert sein wird? Ein Vater erzählt

Dennis Betzholz und seine Tochter
© Dennis Betzholz / Privat
Als seine Frau schwanger war, schrieb der Journalist Dennis Betzholz Briefe an sein ungeborenes Baby. In diesem Brief berichtet er, wie er und seine Frau zu Untersuchungen ihres Kindes auf eine mögliche Behinderung entschieden haben. Dieser Text enthält einen Affiliate Link. 

Es ist eine schwierige Frage mit möglicherweise sehr schmerzhaften Konsequenzen, die werdende Eltern sich angesichts der Möglichkeiten moderner Pränataldiagnostik stellen müssen: Wollen wir wissen, ob unser Kind behindert sein könnte?

Der Journalist Dennis Betzholz hat als werdender Vater 42 Briefe an sein Baby geschrieben. Es geht darin um Liebe, um Sorge und um Verantwortung. Darum, wie sehr er sich auf sein Baby freut und was es braucht, um seinem Kind ein guter Vater zu sein. Daraus entstanden ist das nachdenkliche und warmherzige Buch "Mit dir wird alles anders, Baby". In diesem Brief aus seinem Buch stellt Dennis Betzholz sich der Frage nach Pränataldiagnostik – und er hat eine wundervolle Antwort.

Übers Anderssein

Mein liebes Kind, 

es gibt Fragen, die kann man erst aufrichtig beantworten, wenn sie das eigene Leben betreffen. Etwa diese: Was würdest du tun, wenn du in der Lotterie zehn Millionen Euro gewinnst? Was würdest du tun, wenn du wüsstest, dass deine Tochter ein Verbrechen begangen hat: Würdest du sie verraten? Und würdest du eingreifen, wenn ein Mann von einer Gang verprügelt wird? Wir wussten, dass auch wir uns eines Tages mit einer derart weitreichenden Frage auseinandersetzen müssen, und doch schoben wir sie vor uns her wie die jährliche Steuererklärung. Nun steht diese Frage seit unserem Besuch bei der Frauenärztin aber unausweichlich im Raum. Wir müssen uns entscheiden. Die Frage lautet: Wollen wir wissen, ob du behindert bist? 

"Mit dir wird alles anders, Baby!" Briefe eines werdenden Vaters an sein Kind - ein Buch von Dennis Betzholz. 
"Mit dir wird alles anders, Baby!" Briefe eines werdenden Vaters an sein Kind - ein Buch von Dennis Betzholz.
© Verlagsgruppe Droemer Knaur / Pressestelle

Die moderne Medizin ermöglicht es, mit hoher Wahrscheinlichkeit herauszufinden, ob du anders bist als andere ungeborene Babys. Es ist so: Jede Zelle deines Körpers hat 46 Chromosomen. Ist ein Chromosom zu viel oder zu wenig, dessen Struktur oder einzelne Gene verändert, wirst du behindert zur Welt kommen. Dann könntest du an Trisomie (zu viel) oder an Monosomie (zu wenig) leiden, am Wolf- Hirschhorn-Syndrom (Veränderung der Struktur) oder einer Rot-Grün-Schwäche (Genveränderung).

Um festzustellen, ob mit deinen Chromosomen etwas nicht stimmt oder du einen offenen Rücken oder Infektionen hast, muss zwischen der 14. und 20. Schwangerschaftswoche eine sogenannte Fruchtwasseruntersuchung durchgeführt werden. Dabei wird eine Hohlnadel in die Fruchtblase eingebracht und Fruchtwasser entnommen. 

Diese Methode ist eine unschätzbare Errungenschaft der Forschung. Sie gibt uns Eltern die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob wir ein behindertes Kind großziehen wollen oder nicht – oder um uns zumindest besser darauf vorbereiten zu können. Gleichzeitig ist sie nicht ungefährlich: Die Zahl der Fehlgeburten liegt nach einer solchen Untersuchung bis zu zwei Prozent höher als bei Frauen, die darauf verzichtet haben. Das Entscheidende aber ist: Eine Behinderung kann dabei zwar erkannt, aber nicht geheilt werden. 

Die Frage ist also nicht: "Wollen wir wissen, ob du behindert bist?", sondern: "Würden wir dich abtreiben, wenn du behindert bist?" 

Lautet die Antwort "Nein", müssen wir das Risiko einer Untersuchung doch auch gar nicht erst eingehen. Natürlich habe ich Bilder im Kopf, wenn ich an dich denke: Wie du krabbeln und später laufen lernst, wie du deine Schultüte wie eine Trophäe vor dir herträgst und im Freibad vom Dreimeterbrett springst, Bilder eines normalen Lebens. Dabei weiß ich sehr wohl, dass nicht immer alles normal läuft. 

Ich habe meinen Zivildienst in einer Schule für geistig behinderte Kinder absolviert und Kinder mit Down-Syndrom, Autismus oder einer Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, kurz ADHS, betreut. Dort begegnete ich Sebastian, einem hübschen Jungen mit semmelblonden Haaren, der unter Autismus litt. Wobei ich gar nicht so genau weiß, ob er tatsächlich litt, denn Sebastian war ein fröhlicher Kerl, der in seiner eigenen Welt lebte – und von der man glauben konnte, dass sie friedlicher ist als unsere.

Jedenfalls lächelte Sebastian unentwegt. Wenn er sich freute, unterlegte er sein Lachen mit einem lauten, herausgepressten Stöhnen, seine Augen strahlten dann hinter den dicken Brillengläsern. Sprechen konnte er nicht, und auch eine besondere Begabung wie der von Dustin Hoffman gespielte Autist in Rain Man suchte man bei ihm vergeblich. Er ließ niemanden an sich heran, außer seine Schulbegleiterin. Sie war die Einzige, die sein Vertrauen genoss, nur sie durfte ihn berühren. Wenn sich Sebastian aufregte, rannte er einfach weg und legte dabei ein derart hohes Tempo vor, dass man sich selbst sputen musste, um ihn wieder einzufangen. 

Ich mochte Sebastian vom ersten Moment an. Vielleicht weil er so natürlich war, weil doch jeder von uns am liebsten wegrennen würde, wenn große Wut oder Angst in einem aufsteigt. Vielleicht weil das Lachen eines Menschen, der aus unserer Sicht nicht glücklich sein kann, so viel wertvoller ist als das eines gesunden Menschen. Vielleicht aber auch, weil er mich anders ansah als die anderen, wie einen, dem er eine Chance geben will.

Glück, mein liebes Kind, ist manchmal auch, die Chance zu bekommen, einen besonderen Menschen kennenzulernen.

Nach wenigen Wochen reagierte Sebastian auf meine Worte. Weitere Wochen später lachte er, wenn ich lachte oder alberne Grimassen zog. Nach zwei Monaten ließ er sich von mir im Gesicht streicheln und die Brille abnehmen. Und nach drei Monaten ließ er sich von mir wickeln, ohne dass seine Schulbegleiterin dabei war. Das Herz eines Menschen zu erobern ist ein wundervolles Gefühl. Sebastians Herz zu erobern war doppelt so groß, weil es Welten verband, die einander sonst nie begegnen. 

Man darf das aber auch nicht kleinreden. Ein behindertes Kind kostet mehr Zeit, mehr Geld und ganz sicher sehr viel mehr Kraft. Jedes Kind stellt das Leben seiner Eltern anfangs auf den Kopf, doch ein behindertes Kind hört nie wieder damit auf. Das muss nicht schlecht sein, es ist nur anders – anders als "normal". 

Würden wir dich töten, wenn du mit einem Jahr einen Unfall hast und querschnittsgelähmt bist? Würden wir dich abgeben, wenn du von einer Zecke gebissen wirst und dich eine Hirnhautentzündung zu einem Pflegefall macht? Würden wir nur eine Sekunde darüber nachdenken, dich zur Adoption freizugeben, wenn du an Kinderdemenz erkrankst und nur mit unserer Unterstützung weiterleben könntest? Nein, nein, nein. Warum also sollten wir dich gar nicht erst bekommen, wenn mit dir etwas nicht in Ordnung ist?

Wir wollen dich so, wie du bist. Wir wollen dich nicht nur lieb haben, weil du gesund bist und unseren Vorstellungen entsprichst, wir wollen dich lieb haben, weil du so geworden bist, wie es dein persönlicher Plan war, nicht unserer.

Ob mit einer Hakennase, mit O-Beinen oder eben einer Behinderung, schielend, lispelnd oder stotternd. Wir wollen nur, dass du glücklich wirst. Und ich kann dir sagen: Sebastian war sehr glücklich. Deine Mama sieht das zum Glück auch so. 

Deswegen haben wir die Frage schnell beantwortet. Wir lassen die Untersuchung weg – und freuen uns auf dich, wie auch immer du sein wirst. Denn ein besonderes Kind wirst du so oder so. 

Dein Papa 

mh

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