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Hilfe für verzweifelte Kinderseelen: Wie "Ankerland" traumatisierten Kindern und Jugendlichen hilft

Ankerland: Therapeutin mit Kind
Weil Zeit nicht alle Wunden heilt: Ein Therapiezentrum in Hamburg hilft Kindern und Jugendlichen, die durch Unfälle, Gewalt, Missbrauch oder den Tod von Angehörigen schwer traumatisiert sind. Aus dem Dossier "Ein Teil meines Herzens fehlt: Wie Kinder und Jugendliche mit Verlust und Trauer umgehen und was ihnen hilft".

Ein kleines Mädchen wurde sexuell missbraucht. Ein Flüchtlingsjunge wurde gefoltert. Ein 14-Jähriger hat seinen Vater durch einen Herzinfarkt verloren. Danach war er kaum mehr in der Lage, am Leben teilzunehmen.

Kinder, die durch derart schlimme Erfahrungen seelische Verletzungen erlitten haben, brauchen dringend therapeutische Hilfe. Ein Ort, an dem sie diese Hilfe bekommen, ist das Trauma-Therapiezentrum des "Ankerland e. V." in Hamburg.

Dr. med. Andreas Krüger
Dr. med. Andreas Krüger ist der medizinische Leiter von "Ankerland e.V.".
© Ankerland e.V. / Pressestelle

Wie genau den Kindern geholfen wird, schwerste traumatische Erfahrungen wie Gewalt, Missbrauch oder den Verlust von Angehörigen zu verkraften, schildert hier Dr. med. Andreas Krüger, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, der zusammen mit seinem Team diesen besonderen Ort der Zuflucht mit viel Herz geschaffen hat.

BRIGITTE.de: Dr. Krüger, Sie sind Experte für die Behandlung psychisch traumatisierter junger Menschen und deren Familien sowie Leiter des Ankerland Trauma-Therapiezentrums. Was haben die Kinder erlebt, die hier behandelt werden?

Dr. med. Andreas Krüger: Die meisten Kinder haben Vernachlässigung und Gewalterfahrungen erlitten, zum Teil in der Jugend, zum Teil auch schon im Säuglingsalter. Ein großer Teil der Kinder hat sexualisierte Gewalt erlebt. Viele Kinder haben innerhalb ihrer Familien missbräuchliche und gewaltsame Erfahrungen gemacht. Andere sind Opfer von organisierter Gewalt geworden. Andere Kinder haben auf tragische Weise ihre Eltern verloren, etwa durch Krankheiten oder Unfälle. Viele der Jugendlichen hier haben auch Fluchterfahrungen gemacht und in ihrer Heimat sowie auf ihren Wegen schwere Gewalt erlebt. Die meisten Kinder, die wir hier betreuen, leben nicht mehr bei ihren Eltern, sondern in Heimen, bei Pflegeeltern oder in Adoptivfamilien.

Wir sprechen hier ganz bewusst nicht mit einem betroffenen Kind, um die Kinder zu schützen. Darf ich Sie darum bitten stellvertretend einige Fälle anonym zu beschreiben, damit unsere Leser*innen sich vorstellen können, mit was für Problemen die Kinder hier zu tun haben? 

Da ist zum Beispiel ein Mädchen, nennen wir sie mal Luisa. Luisa wird uns vorgestellt mit fünf. Sie ist seit zwei oder drei Jahren im Kindergarten und kommt da überhaupt nicht klar, hat bis heute keine Freunde gefunden. Luisa ist immer wieder aggressiv und zeigt sexualisiertes Verhalten gegenüber Mitarbeitern und anderen Kindern, sodass andere Eltern schon gesagt haben: 'Das Kind muss hier raus, das kann hier nicht bleiben, das schädigt unsere eigenen Kinder'. 

Luisa wird uns vorgestellt, gemeinsam mit einem Erziehungsbeistand und der Mutter. Wir erfahren, dass Luisa wahrscheinlich durch den Partner der Mutter mehrfach sexuell missbraucht wurde. Wir erfahren, dass sie zu früherer Zeit durch den leiblichen Vater massiv tätlich misshandelt wurde, weswegen die Mutter sich von dem Vater getrennt hat. Er hat sie und das Kleinkind geschlagen, regelmäßig und heftig, weshalb es zu einer Strafanzeige und Strafverfolgung gekommen ist. Letztendlich erfolglos, aber immerhin gibt es keinen Umgang.

Dann wird noch bekannt, dass die Mutter selbst als Kind sexuelle Missbrauchserfahrungen gemacht und tätliche Gewalt erfahren hat. Auch sie ist psychisch sehr stark beeinträchtigt. Das ist so eine Aufnahmesituation, die hier bei Ankerland nicht unüblich ist. 

Viele der Kinder, die Sie behandeln, sind durch den Tod eines ihnen nahestehenden Menschen traumatisiert. Wie kann sich eine solche Erfahrung auf einen jungen Menschen auswirken?

Ich erzähle Ihnen die Geschichte von einem jungen Mann. Er ist jetzt 18 Jahre alt und hat, als er 14 war, seinen Vater durch einen Herzinfarkt verloren. Von dem Moment an ging erstmal nichts mehr. Er konnte nicht mehr in die Schule gehen. Er wirkte extrem depressiv und hatte Angst aus dem Haus zu gehen. Vor der Haustür erstarrte er wie eine Salzsäule und konnte sich nicht mehr bewegen. Dieser Junge litt an "Blitzerinnerungen", sogenannten Flashbacks bezogen auf den Tod seines Vaters, an Ein- und Durchschlafstörungen und an motorischer Unruhe. Er konnte sich nicht mehr gut konzentrieren, war vermehrt ablenkbar. Er war gefühlsmäßig ganz dünnhäutig und fing wegen jeder Kleinigkeit an zu weinen, was ihn selbst sehr beschämte. Er hatte große Schuldgefühle, dass sein Vater gestorben war und er das nicht verhindern konnte. Für diesen jungen Mann ist eine Welt zusammengebrochen und er wird sein Leben lang damit zu tun haben. 

Ein weiteres Beispiel ist der 16-jährige Flüchtlingsjunge Jamal aus Afrika. Auch hier ist der Name eigentlich ein anderer. Er hat miterlebt, wie radikale Milizen erst in der Nachbarschaft gewütet und dann seine Familie ausgerottet haben. Auf der Flucht wird er gefangen genommen, gefoltert und sexuell missbraucht. Irgendwie schafft er es nach Deutschland. Er leidet unter schwersten psychischen Störungen, braucht dringendst eine Behandlung. Er hat viele körperliche Beschwerden; auch Schmerzzustände, nicht nur durch die Misshandlungen, die er erlitten hat, sondern auch psychosomatischer Natur, im Zusammenhang mit der psychischen Traumatisierung, fürchterliche Kopfschmerzen, extremste Gliederschmerzen.

Wie wird diesen Kindern bei Ihnen geholfen?

Das Ankerland-Zentrum ist ein freundliches und einladendes Haus, in dem auf Traumatherapie spezialisierte psychologische, ärztliche und pädagogische Psychotherapeuten sowie Musik-, Kunst- und Körpertherapeuten den Kindern dabei helfen, einen Weg zu finden, mit ihren Traumata umzugehen. Mit unserem Behandlungs-Team von insgesamt acht Leuten haben wir die Möglichkeit, 50 bis 60 Kinder pro Jahr zu versorgen. Dazu kommt eine Kollegin, die im Beratungszentrum Angehörige und Profis unterstützt.

Ganz wichtig für unsere Arbeit ist die sprachorientierte Therapie. Zunächst findet eine ausführliche Diagnostik statt. Ich nenne das vor den Kindern "Fieber messen in der Seele". Wir untersuchen verschiedene Bereiche, in denen Störungen durch traumatischen Stress auftreten. Sobald wir eine Diagnose gestellt haben, beraten wir das Kind und die Bezugspersonen und machen Vorschläge, was man tun könnte, damit die Seele "wieder heil wird".

Das Besondere ist dabei die Art und Weise, wie wir mit dem Kind zusammenarbeiten. Wir haben zwar einen klaren Plan, geben jedoch nicht streng vor, was zu tun ist, sondern machen dem Kind nachvollziehbare Angebote und so handeln wir im Einverständnis mit dem Kind und seinen Bezugspersonen. 

Wie genau helfen die Therapeuten den Kindern dabei, ihre Traumata zu verarbeiten?

Der traumatische Stress, unter dem die Kinder gelitten haben, der auch durch das Sprechen und somit das Erinnern an das traumatische Ereignis erneut ausgelöst werden kann, hat im Gehirn zum "Einschalten" von einer Art "Notfall-Programm" geführt, der Posttraumatischen Belastungsstörung und chronischen Form dieser "Stresskrankheit".

Dieses "Notfallprogramm im Kopf" versetzt den Körper in einen Stressmodus, damit er im Angesicht des Todes für Flucht und Kampf optimal vorbereitet ist. So kommt es bei den Kindern und Jugendlichen beispielsweise zu den aggressiven Ausrastern. Dieses Notfallprogramm lässt sich nicht in zwei Wochen abschalten.

Die Kinder können aber lernen, wie sie Störungszeichen beeinflussen können. Man könnte sagen, die Kinder lernen hier, den Stier bei den Hörnern zu packen. 

Weiter können Kunst-, Musik oder Körpertherapie helfen, das Unaussprechliche ohne Worte auszudrücken und da weiter zu verarbeiten, wo Sprache nicht weiterführt oder gar Hemmnisse auslöst. In diesen Therapieformen geht es unter anderem darum, den Schrecken, den die Kinder erlebt haben, nach außen zu tragen, ohne dass die Schwere dieses Schreckens die Kinder erneut überwältigt.

Gibt es dabei spezielle Behandlungsmethoden oder Rituale für junge Menschen, die unter dem Verlust eines Angehörigen leiden, wie etwa der Jugendliche, der seinen Vater durch einen Herzinfarkt verloren hat? 

Natürlich können wir jungen Menschen, die um einen Angehörigen trauern, ihr Schicksal nicht nehmen. Diese Menschen, die sie verloren haben, werden ihnen ein Leben lang fehlen. Für diesen jungen Mann, dessen Vater verstorben ist, wird der Verlust seines Vaters immer ein Lebensthema bleiben. Da fehlt der Vater, der stolz ist. Der Vater, der mit ihm plant, was man so im Leben machen könnte. Der Vater, mit dem man sein erstes Bier trinkt, der Vater, dem Mann seine Freundin vorstellt

Um junge Menschen in einer so schwierigen Zeit aufzufangen, braucht es gute Menschen, die sie liebevoll und aufmerksam unterstützen und begleiten. Das Leben richtet vielleicht ein bisschen. Aber was eben häufig überhaupt gar nicht erst das Leben und die Teilnahme am gesellschaftlichen, beruflichen und sozialen Leben ermöglicht, sondern dies verhindert, sind die posttraumatischen Belastungsstörungen, die wir hier im Zentrum behandeln.

Das Ankerland-Therapiezentrum gibt Kindern und Jugendlichen, die ihren Halt im Leben verloren haben, Sicherheit, Geborgenheit und Selbstvertrauen – und stärkt sie so für ihre Zukunft.

Dr. med. Andreas Krüger

Warum ist es so wichtig, derart traumatisierten Kindern zeitnah zu helfen? 

Die Folgen einer psychischen Traumatisierung bei Kindern und Jugendlichen können sehr vielschichtig sein. Ohne spezielle Behandlung kann es zu einem Scheitern der gesamten Entwicklung kommen, beispielsweise zu schlechten Leistungen in der Schule, Schulabbruch, Drogenkonsum und auch Selbstmordversuchen. Kinder, die Opfer von Gewalt geworden sind, können auch selbst zu Tätern werden. So wird das Trauma von Generation zu Generation weitergegeben. Untersuchungen haben zudem gezeigt, dass psychischer Stress auch körperlich krank macht. Menschen mit Traumaerfahrung erkranken zum Beispiel häufiger an Krebs, Herzinfarkt, Diabetes und Asthma. Wenn wir früh traumatherapeutisch behandeln, können wir die Folgeschäden verhindern oder zumindest drastisch eindämmen.

Es gibt auch viele niedergelassene Therapeuten und Krankenhäuser. Warum braucht es ein Haus wie das Ankerland-Zentrum? 

Die meisten Kinder, die solche Schreckenszeiten erlebt haben, leiden unter einer schweren komplexen Trauma-Folgestörung und Bindungsstörung. Die kann man nicht in ein paar Wochen oder Monaten in der Klinik heilen. Kinder wie Luisa und Jamal werden jahrelang, möglichst dem Lebensraum nahe, betreut werden müssen.

Das Versorgungssystem ist bei geschätzten 5.000 bis 10.000 allein in Hamburg traumatisierten Kindern und Jugendlichen "nur" mit einer sogenannten "einfachen" Posttraumatischen Belastungsstörung pro Jahr im Hinblick auf Behandlungsplätze, Zeit, Budget und dem entsprechenden traumapsychologischen Know-how überfordert.

Deshalb ist bei mir die Idee entstanden – ein Therapiezentrum mit multiprofessionellem Team, individuellen Eins-zu-Eins-Kontakten in den verschiedenen therapeutischen Disziplinen, zugeschnittenen auf die Behandlung schwer traumatisierter junger Menschen – ohne zeitliche Begrenzung. 

Ist bei einem seelischen Trauma auch Selbsthilfe möglich? 

Ja, zum Beispiel durch Literatur. Ich habe zum Thema Selbsthilfe bei seelischen Traumata einige Bücher geschrieben, für begleitende Erwachsene – Professionelle wie Laien - "Erste Hilfe für traumatisierte Kinder" sowie zwei Bücher speziell zur Trauma-Selbsthilfe für junge Menschen ("Powerbook – Erste Hilfe für die Seele" und "Powerbook special. Mehr Trauma-Selbsthilfe für die Seele"). Darin lasse ich anonymisiert Jugendliche selbst sprechen. Mit den Powerbooks können Betroffene ihre traumatischen Erfahrungen und die Auswirkungen besser verstehen; sie gewinnen Selbstsicherheit und erkennen schließlich: 'Ich bin völlig normal – das, was ich erleben musste, ist verrückt!' Die Bücher können aber natürlich keine zielgerichtete Traumatherapie ersetzen. 

Wie finanziert sich Ankerland e. V.? Was zahlen die Kinder?

Die Kinder und Bezugspersonen zahlen gar nichts. Ankerland e. V. finanziert sich komplett über Spenden- und Stiftungsmittel und andere Zuwendungen. Wir wollen exemplarisch eine optimale Versorgung dieser Patienten darstellen. Unser gutes Beispiel soll Schule machen. Bis Krankenkassen und öffentliche Geldgeber die Finanzierung übernehmen, sind wir auf diese wertvolle Unterstützung angewiesen. 

Wenn ich als Außenstehender das Projekt unterstützen möchte – welche Möglichkeiten gibt es da?

Ankerland aktiv ins Gespräch bringen hilft uns sehr. Ich kann mich auch einbringen, indem ich ein Ehrenamt anbiete, wobei ich sagen möchte, dass das wahrscheinlich nicht bedeutet, dass ich mit Kindern Kontakt haben werde. Und natürlich hilft uns jede kleine und große Spende – einmalig oder regelmäßig!

Die Behandlungskapazitäten des Zentrums sind begrenzt. Bieten Sie auch Hilfsmöglichkeiten für die Kinder, denen Sie aktuell keinen Behandlungsplatz anbieten können?

Ja, unter anderem für diese Fälle haben wir das Trauma-Informations-Zentrum aufgebaut. Damit möchten wir zeitnah wegweisende Informationen geben, da traumatisierte Kinder und Jugendliche sowie ihr soziales Umfeld möglichst schnell Hilfe benötigen. Über das Trauma-Info-Telefon (040 – 63 64 36 27) erhalten die Anrufer direkte Informationen z. B. über geeignete Behandlungs- und Therapieangebote, Hilfe- und Unterstützungsmöglichkeiten, Behörden und Notdienste, Kliniken, Institute, Berufsverbände sowie weiterführende Angebote in Hamburg und anderswo. Unser Beratungszentrum bietet betroffenen Bezugspersonen und Profis eine begrenzte Unterstützung an. 

Helfen & Spenden

Möchtest du die Arbeit des Vereins Ankerland e. V. unterstützen? Viele Informationen dazu, wie du dem Verein helfen kannst, findest du hier: ankerland.de

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