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Alltag als hochsensible Mutter: "Mama, bist du tot?"

Alltag als hochsensible Mutter: "Mama, bist du tot?"
© gpointstudio/shutterstock
Pia ist hochsensibel. Was andere Mütter einfach als anstrengend empfinden, ist für sie oft kaum zu ertragen. Hier schreibt die Bloggerin über Sirenen im Kopf und was ihr hilft, durch den Alltag zu kommen.

Ich liege im Wohnzimmer auf einem Stapel Yoga-Matten, welche die Kinder zum Spielen benutzen. Ich habe die Augen geschlossen, konzentriere mich auf meine Atmung und meinen Herzschlag und versuche irgendeine Form von Ruhe in mir herzustellen. Diese unerträgliche Lautstärke, der Streit, die Vorwürfe, die Unzufriedenheit, die ständigen (An-)Forderungen, sich teilen wollen, sich teilen müssen, nicht allen gerecht werden können, das akzeptieren, trotzdem das Beste draus machen wollen ... in meinem Kopf heulen die Sirenen.

"Mama, bist Du tot?"

Es dauert einen Moment, bis mir bewusst wird, dass mir die Frage wirklich gestellt wurde. Gerade eben, keinen halben Meter von mir entfernt. So laut kreischten meine Gedanken sich gegenseitig an. Gute Mutter. Schlechte Mutter. Richtig reagiert. Falsch reagiert.

"Mama?"

Die Stimmte wird lauter und ich öffne abrupt die Augen, schaue meinen großen Sohn an und antworte:

"Nein. Ich bin nicht tot. Nur sehr, sehr erschöpft!"

"Warum bist Du erschöpft? Hast Du nicht gut geschlafen?"

Nein, das auch nicht, weil seine kleine Schwester die halbe Nacht wach neben mir lag und wimmerte. Arschlochzähne. Sage ich immer wieder. Nun schon im vierten Jahr. Ich brumme bestätigend.

Um mich herum herrscht Chaos. Ich habe es in den letzten Wochen tatsächlich irgendwie geschafft, sowas wie eine Grundordnung aufrecht zu erhalten. Dennoch weit weg entfernt von dem, was ich eigentlich zum Wohlfühlen brauche.

Ich, die hochsensible Mutter

Ich weiß erst seit kurzem, dass ich hochsensibel bin. Zuerst war es mein Sohn, bei dem ich dies vermutete. Eine Blogleserin schrieb mich an. Meine Erzählungen über meinen ältesten Sohn hätten bei ihr die Vermutung aufkommen lassen, dass er hochsensibel sein könnte. Ich las mich in die Materie ein und hatte dieses "Stein vom Herzen fallen"-Gefühl, das viele Betroffene empfinden, wenn sie die Diagnose erhalten.

Tests beim Kinderarzt bestätigten die Vermutung: Mein Kind und ich sind beide hochsensible Personen (HSP). Es erklärte wirklich alles, was wir in unseren ersten gemeinsamen Jahren erlebt haben.

Die Babyjahre: Panik und Fluchtgedanken

Als mein Sohn auf die Welt kam, stürzte ich binnen weniger Tage in ein Loch der Überforderung und Panik. Ständig hatte ich Angst, ich könne dieses kleine Menschlein nicht am Leben erhalten. Ständig nahm ich sein Schreien und Weinen persönlich und redete mir ein, keine gute Mutter zu sein und ihm nie und nimmer gerecht werden zu können. Ich bekam Kindsbettfieber und lehnte nach nur drei Tagen das Stillen ab, weil es nicht auf Anhieb klappen wollte. Im Nachhinein – und mit dem Wissen um meine Hochsensibilität – glaube ich, dass die Verantwortung und Abhängigkeit, die das Stillen mit sich bringt, mich lähmten.

Zudem ergriff mich immer wieder die Panik, mich und mein eigenes Leben aufgegeben zu haben. Da war scheinbar keinerlei Raum mehr für mich und meine Bedürfnisse. Da war nur noch Verantwortung, Tag und Nacht. Dieser kleine Mensch war abhängig von mir. Er würde von nun an mein ganzes Leben bestimmen. Ich redete nicht über meine Ängste. Nach Außen wirkte ich, wie ich mir eine überglückliche Erstlingsmama selber vorstellte.

Ich ging so gut wie nie mit ihm unter Menschen. Er schrie viel und das sehr schrill. Ich hatte ständig das Gefühl, wir würden unangenehm auffallen, stören. Eben genau die Dinge, die meiner Persönlichkeit völlig abgehen.

Sein schrilles Weinen und Schreien taten mir körperlich weh. Manchmal wäre ich gerne einfach weggelaufen. Ich weinte viel. Dieses Gefühl zwischen himmelhochjauchzender Liebe (die ich ganz stark empfand) und Todtraurigkeit über meine eigene Überforderung und Verantwortung schien mich zu zerreißen.

Nach einem halben Jahr wurde es besser. Ich hatte mich der neuen Situation angepasst und mein Sohn weinte weniger. Mit der Geburt des zweiten Kindes, ein ruhiges und ausgeglichenes Baby, änderte sich mein Selbstbewusstsein weiter. Er gab mir Ruhe und Energie sowie die Bestätigung, dass ich nicht alles falsch machte.

Die Kleinkindjahre: Rückzug auf die Toilette

Auch wenn ich in meiner Mutterrolle irgendwann angekommen war, so gab und gibt es doch immer wieder Situationen, in denen ich emotional sehr in Mitleidenschaft gezogen werde. Ein Beispiel war der Moment, in dem mein ältestes Kind das erste Mal zu mir "Du blöde Mama!" sagte. Das veränderte viel in mir. Ich war getroffen und verletzt. Ich weinte daheim (auf der Toilette, damit die Kinder es nicht mitbekamen) und das Gefühl der Ablehnung hallte noch einige Tage in mir nach.

Es fehlt mir nicht an rationalem Verständnis für solch kindliche Äußerungen. Das ist ja das Dilemma bei HSP. Ich weiß um die Bedeutungslosigkeit, empfinde die Worte oder Situation dennoch sehr stark und fühle mich dadurch tief verletzt.

Extreme Lautstärke der Kinder ist mir unangenehm. Ich ermahne sie daher häufig, leiser zu sein. Ich werde unruhig und fahrig, lasse Dinge fallen oder reagiere mit starken Kopfschmerzen. Wir haben daher die Regel aufgestellt, dass sie in ihrem Zimmer so laut spielen dürfen, wie sie wollen. Nicht aber im Wohnzimmer. Manchmal reicht es mir schon, wenn eine Tür zwischen dem Lärm und mir ist. Ich ziehe mich öfter für 10 Minuten auf die Toilette zurück, auch wenn ich nach 60 Sekunden fertig bin.

Situationen, in denen meine Kinder einer Gefahr ausgesetzt sind, schalten mich völlig aus. Erst werde ich sehr laut und schreie. Dann werde ich völlig ruhig, fast so, als sei ich gar nicht betroffen, während ich sie verarzte, tröste und beruhige. Dann bekomme ich einen gigantischen Adrenalinflash, zittere, weine bis hin zum Erbrechen.

Die Selbstreflektion hilft

Ich bin sehr unruhig, wenn ich nicht weiß, was mich erwartet. Zum Beispiel gehe ich jeden Tag mit unsäglicher Nervosität in den Kindergarten, nur weil ich nicht weiß, wie die Kinder drauf sind. Wird es wieder ein Trotztheater geben? Oder eine Heularie, weil einer noch nicht nach Hause will? Ich komme mit den Situationen gut zurecht, wenn ich mich mitten drin befinde, hasse aber die Ungewissheit, die ich vor solchen Situationen empfinde.

Eines der typischen Merkmale von Hochsensiblen ist die sehr starke Selbstreflektion. Generell muss ich jede Situation reflektieren. Ob sie mich oder meine Kinder betreffen, ist dabei völlig egal. Durch das Bloggen habe ich einen Weg gefunden, das sehr strukturiert und "heilend" ausleben zu können.

Der Text stammt von Bloggerin Pia von Bis einer heult! Auf ihrem Blog hat sie auch mehrere Texte über die Facetten und den Alltag mit ihren hochsensiblen Kindern geschrieben.

Weitere Lesetipps:

Pia empfiehlt allen Menschen, die sich über Hochsensibilität informieren wollen, die Seite zartbesaitet.net. Hier kann man auch einen kostenlosen Test machen.

Eltern, die hochsensible Kinder haben, legt sie das Buch "Das hochsensible Kind" von Elaine Aron ans Herz.

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