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Die Kinder in eine Pflegefamilie geben? Das rät die Expertin

Die Kinder in eine Pflegefamilie geben? Das rät die Expertin
© PopTika/shutterstock
Eine alleinerziehende, überforderte Mutter gibt ihre Kinder in eine Pflegefamilie - ein mutiger Schritt, findet die Ärztin und Psychotherapeutin Alexandra Widmer.

BRIGITTE: Eine alleinerziehende Mutter, die so verzweifelt ist, dass sie ihre Kinder in eine Pflegefamilie gibt ...

Dr. Alexandra Widmer: Ich möchte gleich mal feststellen, dass das ein sehr mutiger Schritt ist.

Warum?

Viele Alleinerziehende sind überlastet und haben gleichzeitig Angst, es zu zeigen, sich Unterstützung zu holen. Sie haben ein falsches Verständnis von Stärke. Ich sehe es als Stärke, sich in seiner Schwäche und Bedürftigkeit zu zeigen. Leider wird diese Offenheit von vielen Institutionen und Menschen bei uns noch als Versagen interpretiert. Das muss sich dringend ändern.

Die Überlastung Alleinerziehender ist also allgegenwärtig?

Ja, auch wenn es natürlich immer auf die individuelle Situation ankommt. Natürlich ist es der Best Case, dass der Vater sich auch einbringt. Aber vielen geht es da eher wie Frau Funke, oder? Prinzipiell kann man den anderen Elternteil gerichtlich dazu zwingen, sein Kind zu besuchen, wenn das Kind unter dem Kontaktabbruch leidet. Doch in der Praxis ist es für das Kind nicht schön, wenn der Vater nur mit Zwangsmitteln dazu angehalten wird, Kontakt zu halten.

Ziemlich ungerecht, wenn dann alles an der Mutter hängen bleibt.

Natürlich ist es das. Doch die Frage ist: Wie geht man mit dieser Ungerechtigkeit um?

Wäre es nicht besser, etwas gegen das Problem selbst zu unternehmen?

An diesen äußeren Bedingungen wird ein Einzelner aber erst einmal nichts ändern. Viele sagen, es gibt zu wenig Geld, das Rechtssystem ist unfair, die Politik leistet nichts. Dem stimme ich zu. Und natürlich kann man weiter dem Staat die Schuld geben oder dem Partner, aber dadurch ändert sich nichts, außer dass man sich ein schlechtes Leben macht.

Zur Person
Dr. Alexandra Widmer arbeitet in einer Psychosomatischen Fachklinik in Hamburg, ist zweifache Mutter und betreibt ein Online-Projekt für Alleinerziehende zur Prävention von Depression und Burnout. Inzwischen wird ihr Blog "Stark und Alleinerziehend" tausendfach gelesen und genutzt.
© privat

Was ist denn dann die Alternative?

Es geht nur über hundertprozentige Eigenverantwortung.

Verantwortung haben Alleinerziehende doch mehr als genug.

Das ist wahr. Doch neben der Verantwortung für Kinder, Haushalt oder Einkommen vergessen viele die Eigenverantwortung für sich selbst. Man muss mitfühlend und achtsam mit sich selbst sein, einen guten Umgang mit unangenehmen Gefühlen wie Wut und Angst lernen, sich mit sich selbst auseinandersetzen, sich weiterentwickeln und sich verändern.

Und wann soll man das alles tun?

Keine Zeit und kein Geld - das sind keine Argumente. Was gibt es Wichtigeres als Selbstfürsorge? Denn ohne sie kann man auch nicht für die Kinder sorgen. Es hat nichts mit Egoismus zu tun zu sagen: Der wichtigste Mensch in meinem Leben bin ich, erst dann kommen meine Kinder. Das ist wie mit den Sauerstoffmasken im Flugzeug: Helfen Sie zunächst sich und dann mitreisenden Kindern.

Und fällt Alleinerziehenden dieser Perspektivwechsel schwer?

Viele haben gar kein Bewusstsein für sich und wie man auf sich achtet. Ich selbst wurde nach meiner Trennung mal von einem Berater gefragt, wie es mir geht. Das hat mich völlig überrascht, denn darüber hatte ich zu Beginn tatsächlich noch gar nicht nachgedacht.

Braucht man professionelle Unterstützung, um diese innerlichen Veränderungen zu schaffen?

Ja, und zwar so früh wie möglich. Es gibt Kinderschutzbund, Erziehungsberatungsstellen, die Diakonie, auch ans Jugendamt kann man sich deswegen wenden. Es existieren genügend Anlaufstellen, bei denen man Unterstützung bekommt.

Das Leben als Alleinerziehende ist und bleibt aber objektiv anstrengend.

Natürlich. Aber es ist immer wieder erstaunlich, wenn man sieht, dass es zwei Alleinerziehenden, selbst wenn sie die gleichen Rahmenbedingungen haben, trotzdem völlig unterschiedlich gehen kann. Und dafür spielt eben genau ihre innere Einstellung die Rolle.

Wie genau sollte die sein?

Es geht um zwei Dinge: Erstens seine Grundüberzeugungen zu hinterfragen - und zweitens, sie loszulassen. Viele glauben zum Beispiel, Familie funktioniere nur mit Vater und Mutter, manche haben den Anspruch, es unbedingt besser zu machen als ihre eigenen Eltern. Sie hadern damit, warum gerade sie es als Paar nicht geschafft haben zusammenzubleiben, oder haben den Anspruch, alles allein schaffen zu wollen. Das frisst Selbstvertrauen und bindet Energie, weil man sich die ganze Zeit unzulänglich fühlt. Diese Ideale sind ja gar nicht zu erreichen.

Es ist aber leider nicht nur der eigene Anspruch, für viele ist es Realität, alles allein schaffen zu müssen.

Aber genau das ist eben nicht möglich. Es ist völlig utopisch, wenn man versucht, mit den Kindern allein so (weiter)zuleben, als wäre man es nicht. Dieser dauerhafte Kampf, alles perfekt, alles selbst machen zu wollen, wird zwangsläufig irgendwann in die Erschöpfung führen. Wie bei Frau Funkes Geschichte. Bis eine Mutter diesen Schritt geht und beim Jugendamt anruft, muss schon einiges passieren. Man hätte viel früher gegensteuern müssen. Wenn sie zu mir gekommen wäre, hätte ich sie mit den Kindern zusammen in eine psychosomatische Klinik geschickt.

Das hilft vielleicht in der akuten Krise, aber der Alltag daheim ändert sich dadurch noch lange nicht.

Richtig. Man braucht Menschen, man braucht Netzwerke und Mut, sich diese aufzubauen. Es ist nicht leicht, um Hilfe zu bitten, besonders wenn man vielleicht von vielen erst mal ein Nein hört. Eventuell muss man sogar seinen Freundeskreis ändern, um Unterstützung zu bekommen. Und zwar möglichst von mehreren: Den einen rufe ich an, wenn ich jemanden zum Reden brauche, der andere hilft mir bei praktischen Dingen und nimmt mein Kind mal aus dem Kindergarten mit. Und das nächste Mal übernehme dann umgekehrt ich das Abholen. Anderen geht es schließlich genauso: Man schafft es nicht allein.

Interview: Antje Kunstmann Ein Artikel aus der BRIGITTE 02/2016

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