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Bullshit-Sätze über Gleichberechtigung "Wenigstens hast du als Alleinerziehende jedes zweite Wochenende frei und kriegst dann auch noch Unterhalt"

Alexandra Zykunov: eine Mutetter hilft ihrem kleinen Sohn bei den Hausaufgaben
© Liderina / Shutterstock
Frauen wollen eh nur Mütter werden, können nicht gut verhandeln und sind selbst schuld, wenn sie später kaum Rente bekommen. So was sagt doch heute niemand mehr? Leider schon. BRIGITTE-Redakteurin Alexandra Zykunov hat Floskeln gesammelt, die sich Frauen immer noch anhören müssen – und zerlegt sie ein für alle Mal. Hier erzählt sie, warum Alleinerziehende Mütter es selbst heute noch nicht einfach haben.

Kommen wir zur Zerlegung dieses – und ich kann es nicht anders sagen – Bullshitsatzes: 88 Prozent aller getrennt lebenden Kinder leben bei der Mutter. Folglich sind es zu knapp 90 Prozent auch die Mütter, die die tägliche Care-Arbeit und die ganzen minütlich anfallenden Termine, Verabredungen, Besorgungen und den ganzen sogenannten Mental Load übernehmen. Und eben dieser Mental Load läuft doch auch an den "freien" Wochenenden unbeirrt weiter. Mehr noch: Die Anträge, Lehrermails, Adventskalenderbesorgungen, Therapieplatzgesuche und Sportkurs-Anmeldungen werden oftmals sogar auf eben diese Wochenenden gelegt. Kann man da also ernsthaft von "frei" sprechen?

"Moment", könnten jetzt viele sagen, "mein Mann ist unter der Woche aber auch nicht da und ich muss den ganzen Mental Load auch allein stemmen." Ja, aber doch meist mit der Gewissheit, dass der Partner dafür die finanzielle Last übernimmt. Eine Alleinerziehende hat diese Gewissheit nicht. Sie hat den ganzen Mental Load und zusätzlich noch diesen Financial Load und zwar unter der Woche, an Neujahr, ihrem Geburtstag, am Muttertag und an jedem "freien" Wochenende. An dem sie übrigens – und das ist der Knackpunkt – oft gar nicht frei hat, sondern erwerbs-arbeiten muss.

Und während viele, so wie ich naiverweise früher auch, jetzt vielleicht denken: "Dafür gibt es doch aber den Unterhalt." Ja, den gibt es. Theoretisch. Die Realität sieht aber so aus: 50 Prozent aller Alleinerziehenden bekommen gar keinen Unterhalt vom Vater, obwohl ihnen dieser zusteht. Und weitere 25 Prozent kriegen weniger als sie bekommen sollten. Längst ist von Unterhaltsprellen als Volkssport die Rede. "Na ja, wird an den finanziellen Umständen der Väter liegen", könnte man meinen. Könnte man, ja. Es ist nur so: 70 bis 80 Prozent dieser Väter könnten sehr wohl zahlen. Das hat das Ifo Zentrum für Makroökonomik und Befragungen München vor ein paar Jahren für das ARD-Magazin "Plusminus" errechnet. So vermutet der Professor für Volkswirtschaftslehre Andreas Peichl in dem Beitrag, dass viele dieser Väter Schlupflöcher im System nutzen und sich auf dem Papier ärmer rechnen. Zwar springt dann finanziell der Staat ein und zahlt den Ex-Frauen und ihren Kindern den sogenannten Unterhaltsvorschuss. Aber ratet mal, wie hoch die Pauschale dafür ist? Maximal 307 Euro pro Kind und Monat. Und jetzt ratet mal, wie viel ein Kind im Schnitt in Deutschland kostet? Laut Statistischem Bundesamt 763 Euro im Monat. Kein Wunder, dass da heute fast jede zweite Alleinerziehende armutsgefährdet ist.

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Von Männern für Männer

Aber warum ist das eigentlich so? Warum sind Ein-Eltern-Familien in Deutschland so extrem von Armut bedroht? Es liegt auch daran, dass unser Bundestag immer noch zu knapp einem Drittel von Frauen und zu zwei Dritteln von Männern besetzt ist. Wodurch wir auch heute noch in einem Land leben, in dem Gesetze meist von Männern für Männer gemacht werden, meist von weißen, älteren, oftmals konservativen Männern. Und so ist es auch kein Wunder, dass die Journalistin Teresa Bücker in einem Interview mal den Gedanken äußerte, dass die Politik Alleinerziehende offenbar gar nicht als eine eigenständige Familienform ansieht, vielmehr als einen temporären Status, den frau ganz schnell zu passieren und diese "Lücke" mit einem neuen Mr. Right zu stopfen hat. Weswegen es offenbar auch keine finanziell nachhaltigen Maßnahmen für Alleinerziehende gibt, weil: wozu? Ist doch alles eh nur temporär.

Übrigens lässt sich die Frage, warum Alleinerziehende im Stich gelassen werden, auch historisch wunderbar begründen: Weil – und jetzt wird es wieder etwas pathetisch – das Patriarchat hier ein Exempel statuieren will, und zwar an den Frauen, die es "gewagt" haben, der Welt zu zeigen, dass sie und ihr Kind auch ohne einen männlichen Ernährer zurechtkommen. Und das kann ja kein Patriarchat, das bei Sinn und Verstand ist, so stehen lassen. Kein Wunder also, dass Alleinerziehende schon überviele Jahrhunderte hinweg gedemütigt, verstoßen oder – je nach Zeitepoche – ausgepeitscht wurden; wahlweise wurde ihnen eine andere Kleiderordnung aufgezwungen oder gleich das Kind weggenommen.

Alles Spukgeschichten aus dem Mittelalter? Leider nein. Bis 1938 noch durfte in Deutschland ledigen Schwangeren fristlos gekündigt werden und bis 1961 hatten sie kein Sorgerecht für ihr Kind, das Jugendamt hatte den Vormund – kein Witz. Und heute? Bleibt die Peitsche zu Hause, aber mit der Ungleichbehandlung geht es weiter. 

Wie kommen wir raus aus der Misere?

Wir müssen uns einfach immer und immer wieder öffentlich darüber echauffieren, wie es sein kann, dass alleinerziehende Frauen heute im Schnitt 1873 Euro netto verdienen, alleinerziehende Väter aber 2461 Euro; oder warum der Weg ins Büro (= Erwerbs-arbeit) von der Steuer absetzbar ist, der Weg zu Schule oder Kita (= Care-Arbeit) aber nicht; oder wie es sein kann, dass unser Steuersystem – Stand heute – Alleinerziehende fast genauso hoch besteuert wie Singles ohne Kind. Und wir müssen einsehen, dass all diese patriarchalen Strukturen leider längst nicht ausgestorben sind und auch nicht überholt, sondern auch in einem Jahr 2022 immer noch wüten.

An dieser Stelle noch ein allerletztes Argument: Während 43 Prozent aller Ein-Eltern-Familien von Armut betroffen sind (Tendenz steigend), sind es bei Familien mit zwei Elternteilen und einem Kind gerade mal 9 Prozent (Tendenz fallend). "Aber wenigstens haben Alleinerziehende jedes zweite Wochenende frei"? oder "Dafür kriegen sie doch Unterhalt"? – ihr wisst, was zu tun ist, wenn ihr solche Sätze hört.

Alexandra Zykunov: orangenes Buchcover mit Heller Aufschrift
© PR

Lust auf mehr aus der Möchtegern-Gleichberechtigungshölle? Mit viel Wut und Präzision zerlegt Alexandra Zykunov noch 20 weiterer solcher "Bullshit"--Sätze in ihrem neuen Buch "Wir sind doch alle längst gleichberechtigt". (288 S., 11 Euro, Ullstein)

Brigitte

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