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"Eltern machen alles möglich, bis es sie zerreißt"

Wie geht es Familien in Deutschland? Was stresst sie? Was brauchen sie? Das will das Interviewprojekt "Family Unplugged" zeigen. Wir haben mit zwei der Macherinnen gesprochen.

Das Projekt "Family Unplugged" interviewt Familien aus ganz Deutschland und fragt sie nach ihrem Alltag, ihren Wünschen und ihren Sorgen. In den nächsten Wochen stellen wir Auszüge dieser Interviews vor. Hier erklären die Initiatorinnen, was sie mit ihrem Projekt erreichen wollen.

BRIGITTE MOM: Egal, mit wem man spricht - die größte Herausforderung für Eltern in Deutschland ist immer noch der Spagat zwischen Job und Familie. Habt ihr euch auch so erfolglos an der Vereinbarkeit abgearbeitet?

Lisa Ortgies: Wir alle, so haben wir zu dem Projekt "Family Unplugged" zusammengefunden.

Wann habt ihr im täglichen Schweinsgalopp gemerkt, dass es so nicht weitergehen kann?

Lisa: Mein Kind hatte einen angeknacksten Fuß, lag morgens im Bett und konnte nicht aufstehen. Das war die Situation: Mein Mann ist weg, ich muss zum Flughafen, das Taxi steht schon vor der Tür. Und da fange ich an, hektisch rumzutelefonieren, wer jetzt das Kind nehmen kann. Das Kind weint und klammert. Und ich sage nicht: So, mein Kind hat einen angeschwollenen Fuß, dies ist der Tag, an dem ich zu Hause bleiben werde. Ich hab das heulende Kind im Taxi bei der Kinderfrau vorbeigefahren und bin pflichtschuldigst zum Flughafen weitergerast. Und erst im Flugzeug hab ich gedacht: Was hast du denn da gerade gemacht? Welches Gefühl bleibt da beim Kind zurück? Egal, was mit mir ist: erste Prio hat Mamas Job?! So funktionieren wir Mütter nämlich: Alles für den Arbeitgeber. Anstatt zu sagen: Halt! So geht’s nicht weiter. Und endlich selbst mal Forderungen zu stellen.

Wie konnte es bei euch so weit kommen?

Susanne Garsoffsky: Die ersten zehn Jahre mit Kindern habe ich an den Glauben vergeudet, dass ich, bzw. wir, so eine Art Role Model sein könnten: beide Eltern berufstätig, beide Kinder noch vor dem ersten Geburtstag in der Krippe und viele teure Urlaube, die die fehlende Nähe, die wenige Aufmerksamkeit und das verpasste Glück kompensieren sollten.

"Mama, wo bin ich heute Nachmittag, und wer ist für mich zuständig?"

Hat wohl nicht besonders gut funktioniert?

Lisa: Nein, wir haben nicht nur unsere Kinder, sondern auch uns als Paar gegenseitig ständig überfordert. Bis sich einige Probleme nicht mehr wegorganisieren ließen.<br> Susanne: Bei uns war auch jeder Tag getaktet, jeder von uns - die Eltern und die Kinder - wusste genau, was er zu tun hatte. Vertrödelte Nachmittage hatten in unseren Terminkalendern keinen Platz. Und am Abend brachen alle erschöpft auf dem Sofa zusammen. Aber irgendwann ging es dann nicht mehr.

Warum? Was ist passiert?

Susanne: Irgendwann kamen mir bei dem Satz meines damals Siebenjährigen die Tränen. Das Kind hatte wie jeden Morgen gefragt: "Wo bin ich heute Nachmittag, und wer ist heute für mich zuständig?" Ich wollte nicht hin und wieder "zuständig" sein für meine Kinder. Ich wollte da sein. Auch wenn mal ein Kind krank wird. Und nicht schon nachts, wenn das Kind noch elend über dem Klo hängt, nur eins denken: Scheiße, wie mach ich das denn morgen? Und schon eine Mail an die Kollegen schreiben, statt das Kind erst mal in den Arm zu nehmen.

Lisa: Und dann gleich schon mal fragen: "Meinst du, du kannst morgen wieder in die Schule?" Und das Kind am nächsten Tag mit Zäpfchen gedopt losschicken. Alle berufstätigen Mütter kennen das. Aber gesprochen wird nicht darüber. Oder nur in sehr kleinem Kreis.

Habt ihr euch allein gefühlt in diesem Hamsterrad?

Lisa: Sehr allein. Es hätte mir wirklich geholfen, zu wissen, dass ich es nicht bin und andere Mütter Ähnliches durchmachen. Dass es einfach nicht klappt mit der Vereinbarkeit, weil immer irgendwas unter die Räder kommt. Wir krebsen alle am Limit, die Kuren vom Müttergenesungswerk sind voll, immer mehr Kinder sind auf Ritalin. Trotzdem gibt es immer noch dieses Mütter-Ideal "Ich kann alles und steck mir hinten noch ’nen Besen rein", wie meine Oma immer gesagt hat.

Und mit "Familiy Unplugged" wollt ihr jetzt Familien in ganz Deutschland eine öffentliche Stimme geben?

Lisa: Wir wollen eine Anlaufstelle sein, ein Ort im Netz, wo Familien ihre Erfahrungen, ihre Ängste und ihren Frust lassen können. Wo sie aber auch gleichzeitig Impulse bekommen, was Liebe und Glück ausmachen, wo sie Kraft für den Alltag tanken können. Bei uns sollen alle Familien zu Wort kommen, über die die Politik immer nur in Zahlen und Schlagwörtern redet.

Susanne: Und wenn man ihnen dann zuhört - und auch das Familienministerium ist bei unserem Projekt an Bord und tut das - dann merkt man ganz schnell: Hier geht es nicht um persönliches Versagen. Die Familien verbiegen sich, um alles hinzukriegen, aber oft geht es einfach nicht.

Also kein privates, hausgemachtes Problem, sondern ein strukturelles?

Lisa: Ja, und die Lösung der Probleme, die sich übrigens bei ganz unterschiedlichen Familien in ähnlicher Form ergeben, gehört als Aufgabe zwischen Politik und Wirtschaft. Und nicht ins private Wohnzimmer.

Wie macht ihr eure Interviews?

Susanne: Wir besuchen die Familie daheim und führen mit ihr ein etwa dreistündiges Interview. Aus dem Material schneiden wir O-Ton-Collagen von ca. 15 Minuten, ohne Bewertung und Kommentar. Das meint "unplugged".

Was wollt ihr wissen?

Susanne: Wir fragen unter anderem: Wer arbeitet Teilzeit, wer Vollzeit und warum? Wie ist das ausgehandelt worden, welche Argumente und Gefühle haben dabei eine Rolle gespielt? Wie wuppt ihr euren Famillienalltag? Und zwar ganz konkret: von A wie Abholdienst bis W wie Wäsche?

"Politik und Wirtschaft müssen alles, wirklich alles dafür tun, dass es Familien gut geht"

Lisa: "Family Unplugged" setzt auf die Erfahrung, dass sich Familien vor allem an anderen Familien orientieren, nach dem Motto: "Wie macht ihr das eigentlich? Wie schafft ihr das?"

Da kann man sich dann was abschauen?

Susanne: Und die Lebensentwürfe abgleichen. Nicht gegeneinander, sondern miteinander! Wir brauchen dringend ein großes Netzwerk, weil Familien keine Lobby haben, das zeigt unser Projekt deutlich. Familien sind viel zu sehr damit beschäftigt, ihren Alltag auf die Kette zu bringen. Aber wir müssen uns zusammenschließen, eine politische Lobby schaffen und laut sagen, was Familien wirklich brauchen. Politik und Wirtschaft müssen die Familien als wichtige Säulen dieser Gesellschaft anerkennen.

Gab es Momente während der Interviews, wo es euch die Schuhe ausgezogen hat?

Lisa: Bei einer Anästhesie-Schwester, die alles gestemmt hat. Hausbau, zwei Kinder, alle Bälle gleichzeitig in der Luft. Und die irgendwann im OP stand und gesagt hat, ich weiß nicht mehr, welches Mittel ich aufgezogen habe, ich hab drei Nächte nicht mehr geschlafen. Und die dann zu ihrer Oberschwester gegangen ist und gesagt hat: Ich muss jetzt hier Stopp sagen. Die war dann sechs Monate draußen.

Muss es wirklich so laufen? Dass die Eltern versuchen, immer alles möglich zu machen, bis es sie zerreißt? Man kann von Seiten der Politiker nicht ohne Ende erwarten, dass immer alles im Privaten weggeschafft und gestemmt wird. Ohne mit den Folgen zu leben. Dazu gehört nämlich auch, dass immer mehr Eltern eher im Burn-out landen, als beim Arbeitgeber Rücksicht einzufordern.

Oder die Leute einfach keine Kinder mehr bekommen?

Susanne: Ja, so weit ist es schon. Es kann doch nicht sein, dass so etwas Wertvolles wie Fürsorge keinen Wert hat. Dass Väter und Mütter bestraft werden, wenn sie eine Zeitlang beruflich kürzer treten wollen. Es gibt einen klaren Zwang, sowohl wirtschaftlich, als auch politisch, als auch gesellschaftlich: so früh wie möglich mit so vielen Stunden wie möglich zurückzukommen. Die meisten Familien, die wir interviewt haben, organisieren das genau so. Wenn möglich sogar mit einer 24-Stunden-Kita.

Lisa: Das ist Turbo-Kapitalismus. Alles muss organisierbar sein. Fürsorge und Fragen wie "Was ist gut für alle, wie geht’s den Kindern?" gelten da nur als Zeitverschwendung. Deswegen ist auch das Wort "Quality Time" völliger Quatsch.

Susanne: Es ist nichts anderes als der Versuch, die Arbeitsökonomie der Unternehmen aufs Privatleben zu übertragen. Die Kinder müssen sich Zeitplänen unterordnen, die definitiv nicht ihre sind. Und wir machen brav mit, weil wir es inzwischen für selbstverständlich halten.

Macht mit!

Lisa Ortgies und Susanne Garsoffky suchen weiterhin Familien, die sich für ihr Projekt interviewen lassen. Sie kommen mit der Kamera und hören zu. Hier findet ihr die Interviews und erfahrt, wie ihr mitmachen könnt: www.family-unplugged.de

Interview: Angela Wittmann und Andrea Benda

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