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Kind mit Down-Syndrom Meine Tochter ist flügge – und ich genieße meine neue Freiheit

Kind mit Down-Syndrom: Mutter und Tochter umarmen sich
© Brastock Images (Symbolfoto) / Adobe Stock
Das Kind loslassen, Zeit für sich gewinnen: Für Pfarrerin Verena Sollberger, 59, war das lange schwer, ihre Tochter hat das Down-Syndrom. Jetzt genießt sie die neue Freiheit.

Eine neue Sprache lernen. Eine Fortbildung besuchen. Spontan eine Fahrradtour machen oder zu einer Abendveranstaltung gehen. Das klingt so normal, nicht nach einer großen Lebensveränderung. Aber für mich ist sie das durchaus.

Eine besondere Lebensaufgabe

Ich werde nie die betretene Miene des Arztes vergessen, als er uns ein paar Stunden nach der Geburt unserer Tochter eröffnete, sie würde vielleicht nie lesen, schreiben oder rechnen lernen. Dass Rebekka mit dem Down-Syndrom zur Welt kommen würde, traf uns nicht ganz überraschend. Aber erst in dem Moment wurde mir klar, welch besondere Lebensaufgabe dieses Kind war. Wie viel persönliche Freiheit ich je zurückgewinnen würde, stand in den Sternen.

Das ist jetzt 21 Jahre her. Mein Mann Ueli und ich waren uns früh einig, dass sie so normal wie möglich groß werden sollte, haben uns dafür eingesetzt und Opfer gebracht: darum gekämpft, dass sie eine Regelklasse besuchen darf, sie jahrelang gebracht und geholt, weil man den Fahrdienst nur in Anspruch nehmen kann, wenn das Kind eine heilpädagogische Schule besucht. Als sie 13, 14 Jahre alt war, konnte sie schließlich ihren Schulweg allein bewältigen.

Trotzdem kreisten meine Gedanken, meine Sorgen sehr oft um ihr Leben, ihre Zukunft. Darüber ist vieles zu kurz gekommen. Nicht zuletzt ich selbst.

Uns war immer wichtig, Stück für Stück Rebekkas Selbständigkeit zu fördern, aber wir wollten sie auch nicht überfordern. Denn dann wird sie von ihren Gefühlen überschwemmt, wütend, ängstlich. Ein schmaler Grat. Ich hätte nie gedacht, dass Rebekka eines Tages einen regulären Arbeitsvertrag bekommen würde und ihr eigenes Geld verdient.

Unsere Tochter ist selbstständig geworden ...

Doch in letzter Zeit sind ein paar Dinge passiert, die mir gezeigt haben: So war es richtig. Sie ist im Urlaub den halben Tag in der Ferienwohnung geblieben, während Ueli und ich unterwegs waren. Sie war zum ersten Mal eine ganze Nacht allein zu Hause, ist morgens um sechs selbstständig aufgestanden und zur Arbeit gefahren. Denn, das Allerbeste: Nach der Ausbildung erhielt sie eine feste Anstellung in ihrem Lehrbetrieb, dem Restaurant „sowieso“ in Luzern, das Menschen mit Behinderung beschäftigt.

Auf diese Schritte ist sie sehr stolz, und wir Eltern sind es genauso. Nun fehlt nur noch, dass sie früher oder später auszieht, zum Beispiel in eine inklusive WG. Auch Kinder wie Rebekka müssen flügge werden, schon zu ihrem eigenen Schutz – wir Eltern werden nicht für immer für sie da sein können. Am meisten geholfen hat mir der Gedanke, dass ich nicht nur für Rebekka kämpfe, sondern auch für Eltern, die sich nicht so leicht Gehör verschaffen können wie ich.

... und ich habe wieder Freiräume

Für mich sind dadurch viele Freiräume entstanden, und weil sie nicht selbstverständlich sind, genieße ich sie umso mehr. Endlich habe ich mir den Traum erfüllt, Farsi zu lernen, und war letztes Jahr mit einer Reisegruppe im Iran. Das hat mich fasziniert, seitdem ich in meiner Arbeit mit Geflüchteten mit dem Land und seiner Kultur in Berührung gekommen bin. Die Sprache ist anspruchsvoll, ich bin schon stolz darauf, wenn ich beim Mittagstisch mit ihnen ein paar simple Sätze fehlerfrei zusammenbringe. Aber es macht mich glücklich, dass endlich wieder Zeit und Raum für solche Interessen ist – nicht nur in meinem Kalender, auch in meinem Kopf.

Brigitte

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