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Geburtsgeschenke: Ein Brief von Astrid Lindgren

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Manchmal sind Worte ein größeres Geschenk als irgendein gekauftes Ding. Vor allem wenn sie die wunderbare Astrid Lindgren aufgeschrieben hat. Ihr Brief an ihren neugeborenen Sohn, den sie mit 19 bekam, ist eine der schönsten Liebeserklärungen an ein Baby, die wir je gelesen haben.

Astrid Lindgren: Auch eine Mutter, die sich nicht unterkriegen ließ


Wenn ein Baby geboren wird, fehlen uns oft die Worte für dieses Wunder. Astrid Lindgren hat sie gefunden. In einem Brief an ihren eben geborenen Sohn Lars. Sie war erst 19, als er auf die Welt kam, eine ledige Mutter, im Jahr 1926 ein Skandal. Sie konnte nicht in ihrer schwedischen Heimatstadt Vimmerby bleiben, auch weil sie sonst den Behörden den Vater des Kindes hätte nennen müssen, was sie zu dessen Schutz nicht wollte. Also beschloss sie, ihr Kind in Dänemark zur Welt zu bringen. Danach ging sie allein nach Stockholm, wo sie einen Bürokurs absolvierte, um finanziell unabhängig zu sein. Trotzdem waren die nächsten Jahre von großer Armut überschattet. Ihren geliebten Sohn musste sie drei Jahre lang in Kopenhagen bei einer Pflegefamilie lassen. Das Geld für die Zugfahrkarten dorthin sparte sie sich vom Mund ab. In dieser traurigen, einsamen Zeit hat Astrid Lindgren zum Trost die halbe Stockholmer Stadtbibliothek gelesen. 1929 holte Astrid Lindgren, die ganztags als Sekretärin beim schwedischen Augomobilclub arbeitete, ihren Sohn zu sich und ließ sie ihn von ihrer Vermieterin betreuen. Bei der Arbeit lernte sie Sture Lindgren kennen, den späteren Direktor des Automobilclubs, den sie 1931 heiratete. Drei Jahre später wurde die gemeinsame Tochter Karin geboren, der sie sich nun auch als Baby mit ihrer ganzen Liebe widmen konnte.

Wenn man den Brief an ihren Sohn Lars liest, weiß man, wie sehr sie unter der Trennung gelitten hat, auch wenn sie fast nie öffentlich darüber gesprochen hat. Dieser Brief ist einer der schönsten Liebeserklärungen an ein Baby, die wir je gelesen haben. Ein Geschenk für alle, die nach Worten suchen für die großen Gefühle, die so ein kleines Wesen hervorruft. Ein Schatz für alle, die aus einem Text voller Liebe zitieren wollen. Zur Geburt, zur Taufe – oder einfach so.

Astrid Lindgrens Brief: "Mein Sohn liegt in meinem Arm"

"Mein Sohn liegt in meinem Arm. Er ist eine so zarte kleine Last, man spürt sie fast gar nicht. Und doch wiegt sie schwerer als Erde und Himmel und Sterne und das ganze Sonnensystem. Wenn ich heute sterben müsste, so könnte ich die Erinnerung an diese holde kleine Last mit mir ins Paradies nehmen. Ich habe nicht vergebens gelebt.

Mein Sohn liegt in meinem Arm. Er hat so kleine, kleine Hände. Die eine hat sich um meinen Zeigefinger geschlossen, und ich wage nicht, mich zu rühren. Er könnte dann vielleicht loslassen, und das wäre unerträglich. So ein Himmelswunder, diese kleine Hand mit fünf kleinen Fingern und fünf kleinen Nägeln. Ich wusste ja, dass Kinder Hände haben, aber ich habe wohl nicht recht begriffen, dass mein Kind auch solche haben würde. Denn ich liege hier und blicke auf das kleine Rosenblatt, das die Hand meines Sohnes ist, und kann nicht aufhören zu staunen.

Er liegt mit geschlossenen Augen da und bohrt seine Nase in meine Brust, er hat schwarzes, flaumiges Haar, und ich kann ihn atmen hören. Er ist ein Wunderwerk.

Sein Vater war hier und fand auch, dass er ein Wunderwerk sei. Er muss also ein Wunderwerk sein, da wir beide es finden.

Meine Liebe zu ihm tut fast weh.

Vorhin hat mein Sohn ein bisschen geweint. Wie ein kläglich blökendes Zicklein gebärdet er sich, wenn er weint, und ich ertrage es fast nicht. Wie schutzlos du bist, kleines Zicklein. Mein kleines Vögelchen, wie soll ich dich schützen? Meine Arme schließen sich fester um dich. Sie haben auf dich gewartet, meine Arme, sie waren von Anfang an dafür bestimmt, ein Nest für dich zu sein, du mein Vögelchen. Du bist mein, du gehörst mir jetzt. In diesem Augenblick bist du ganz mein. Aber bald wirst du anfangen zu wachsen. Jeder Tag, der vergeht, wird dich ein kleines Stück weiter von mir wegführen. Nie mehr wirst du mir so nahe sein wie jetzt ...

Aber jetzt, in diesem Augenblick habe ich dich. Du bist mein, mein, mein – mit deinem flaumigen Kopf und deinen zarten, kleinen Fingern und deinem kläglichen Weinen und deinem Munde, der nach mir sucht. Du brauchst mich, denn du bist nur ein armes, kleines Kind, das auf die Erde gekommen ist und gar nicht ohne Mutter sein kann. Du weißt nicht einmal, was das für ein Ort ist, an den du gekommen bist, und vielleicht klingt dein Weinen deshalb so verirrt. Hast du Angst, das Leben zu beginnen? Du weißt nicht, was dich erwartet? Soll ich es dir erzählen?

Hier gibt es so viel Merkwürdiges. Warte nur, dann wirst du es sehen. Es gibt blühende Apfelbäume und kleine, stille Seen und große, weite Meere und Sterne in der Nacht und blaue Frühlingsabende und Wälder – ist es nicht schön, dass es Wälder gibt? Manchmal liegt Rauhreif auf den Bäumen, manchmal scheint der Mond, und im Sommer liegt Tau im Grase, wenn man erwacht. Dann kannst du auf deinen kleinen, nackten Füßen dort gehen. Du kannst auf schmalen, einsamen Skispuren in den Wald hineingleiten - wenn es Winter ist natürlich. Die Sonne wirst du lieben, sie wärmt und leuchtet, und das Wasser im Meer ist kühl und lieblich, wenn du badest. Es gibt Märchen in der Welt und Lieder. Es gibt Bücher und Menschen, und einige von ihnen werden deine Freunde. Es gibt Blumen, sie sind gar nicht nützlich, sondern nur, nur schön. Ist das nicht wunderbar und herrlich? Und auf der ganzen Erde gibt es Wälder und Seen und Berge und Flüsse und Städte, die du nie gesehen hast, aber vielleicht eines Tages sehen wirst.

Deshalb sage ich dir, mein Sohn, dass die Erde ein guter Ort ist, um dort zu leben, und dass das Leben ein Geschenk ist. Glaub nie denen, die etwas anderes zu sagen versuchen. Gewiss, das Leben kann auch schwer sein, das will ich dir nicht verhehlen. Du wirst Kummer haben, du wirst weinen. Es kommen vielleicht Stunden, da du den Wunsch hast, nicht mehr zu leben. Oh, du kannst nie verstehen, was für ein Gefühl es für mich ist, dies zu wissen. Ich könnte mein Herzblut für dich geben, aber ich kann nicht eine einzige von den Sorgen wegnehmen, die dich erwartet. Und doch sage ich dir, mein liebes Kind: Die Erde ist die Heimat der Menschen, und sie ist eine wunderbare Heimat. Möge das Leben nie so hart gegen dich sein, dass du es nicht verstehst. Gott schütze dich, mein Sohn!"

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