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Familienkolumne Wie krieg ich Mama ins Heim?

Frau umarmt ihre alte Mutter
© pikselstock / Adobe Stock
Ihre Mutter, 93, wohnt in einem völlig altersuntauglichen Häuschen. Und will nicht sehen, dass es bessere Alternativen gäbe. Bleibt der "lieben Tochter" also nichts anderes übrig, als weiter Teilzeit-Pflegerin zu sein (und Vollzeit genervt)?

Vorhin am Telefon war ich vor Schreck zusammengezuckt. "Na, so 97 möchte ich schon noch werden!", hatte meine Mutter munter zum Abschluss unseres Gesprächs gesagt. Spontan schoss mir durch den Kopf: O Gott! NOCH WEITERE 4 JAHRE? Das überleb ich nicht! Eine Minute später habe ich mich für diesen Gedanken geschämt und kam mir schrecklich vor. Die schlimmste, gemeinste Tochter der Welt.

Aber eben auch die frustrierteste: Denn davor hatte Mama eine halbe Stunde gejammert, was ihr alles wehtäte, wie freud- und schlaflos sie immer sei, wie verrückt der Blutdruck und wie schlecht das Wetter. Die Menschen und die Welt würden auch immer schlimmer, und keiner der Nachbarn nehme sich Zeit für sie. Sie sei ja keine, die jammert, aber NIEMAND kümmere sich um sie!

Das alles wusste ich längst, denn gestern hatte sie das genauso vorgetragen. Und vorgestern auch. Eigentlich die letzten zehn Jahre, seitdem mein Vater gestorben war und sie allein in dem völlig altersuntauglichen Häuschen auf dem Lande zurückließ, das er für sie beide gebaut hatte, nachdem wir Kinder aus dem großen Elternhaus waren. Das Häuschen ist so klein und rückzugsraumfrei, dass man leider auch keine nette Pflegerin dort bei ihr einquartieren könnte.

Etliche Wochenenden auf der Luftmatratze

Meine Schwestern und ich leben in gut zweihundert Kilometer entfernten Städten und hatten unsere Mutter immer wieder gefragt, gebeten oder auch versucht zu überreden, das Häuschen aufzulösen und in ein schönes Seniorenwohnheim in spaziergängiger Nähe zu einer von uns zu ziehen. Dort hätte sie Ansprache, gutes Essen, Service und Unterhaltung, und wir, die wir "nebenher" alle noch mit Vollzeitjob und Familien und Freunden voll ausgelastet waren, könnten sorgloser sein. Einfach unsere Mutter nachmittags besuchen, Kaffee trinken, bummeln und dann wieder gehen. So machen es etliche Freundinnen mit ihren alten Eltern – ich beneide sie heftig. Denn meine Schwestern und ich wechseln uns dabei ab, sehr lange Wochenenden auf einer Luftmatratze bei unserer Mutter im Häuschen zu verbringen, um ihr Leben, Gesellschaft und Essen ins Haus zu bringen. Egal, wann man schmerzenden Rückens wieder fährt – für sie ist es immer zu früh und man fühlt sich immer ungenügend.

Immerhin ist sie mittlerweile, so gut es geht, zu Hause abgesichert. Sie hat den Notrufservice der Johanniter, der Pflegedienst kommt 24/7 dreimal täglich vorbei, um nach ihr zu sehen, ihre Tabletteneinnahme zu überprüfen und ob sie genug isst und trinkt. Sie hat zudem eine Haushaltshilfe und einen Gärtner. Mehr können wir nicht tun – außer selbst zu ihr zu ziehen und ihr beim Altsein und Wütendsein über das Altsein Gesellschaft zu leisten.

Bei aller Liebe, das ist zu viel verlangt! Gesetzlich gilt: Niemand darf zur Pflege von Angehörigen gezwungen werden und niemand muss sich von Angehörigen gegen den eigenen Willen pflegen lassen. Nicht im Gesetzbuch stehen allerdings die moralischen (Selbst-)verpflichtungen und eine Familiengeschichte, die uns alle in unseren vorgesehenen Rollen gefangen hält.

Sie bestimmte, was wir zu machen und zu lassen hätten

Um es in Abwandlung eines alten KISS-Krachers kurz zu sagen: I was made for loving you. Unsere Mutter als traumatisiertes Kriegskind war aber im Gegenzug nicht etwa dafür gemacht, zurückzulieben. Stattdessen bestimmte sie, was wir zu machen (Karriere, heiraten) und zu lassen (sie bekümmern oder blamieren) hätten. Auch heute erzählt sie immer wieder, dass "die Leute" so viele Kinder bekommen würden, "weil die einem so viel Liebe, Wärme und Freude ins Haus bringen!". Ich weiß nicht, wie oft ich ihr darauf schon wütend geantwortet habe, dass es umgekehrt sein sollte, dass Eltern ihren Kindern Wärme und Liebe geben sollten, statt sich Babys als emotionale Nutztiere und stets verfügbare vertraute Haustherapeuten heranzuziehen. Denn zu echten Therapeuten wollte sie trotz mehrfachen Rats ihrer Ärzte nie gehen: "Wieso sollte ich einem völlig Fremden etwas von mir erzählen?!" Dafür hatte sie schließlich uns, ihre Töchter. Bei jedem Telefonat hört man sich also ihre Probleme an und spricht ihr dann eine halbe Stunde Lebensmut zu, der einem hinterher selbst fehlt.

Die Kühle, mit der ich ihr Leiden an sich und der Welt mittlerweile zur Kenntnis nehme, erschreckt mich manchmal, denn ich habe ein anderes Bild von mir – das einer empathischen und fürsorglichen Frau, Mutter, Tochter und Freundin. Nur zu gerne hätte ich einen schönen Lebensabend zusammen mit ihr und meiner Schwester geplant. Doch auch nach dem Tod ihres Mannes hat sie sich jedem Gespräch darüber verweigert.

Ich habe mir mittlerweile in Internet-Foren zum Thema Pflege alter Eltern die Nächte um die Ohren geschlagen. Und dabei einiges gelernt, was ich nie gedacht und auch lieber nicht gewusst hätte: Dass man als Bevollmächtigte nicht die Vollmacht hat, Dinge durchzusetzen, die man für seine Mutter für am besten hält – sondern dass einen dieses Dokument zur (un-)willigen Erfüllungsgehilfin all ihrer Wünsche, Launen, Vorstellungen und Abneigungen macht. Meine Mutter hält es für ihr Recht, dass wir Kinder immer für sie auf "Stand-by" sind und "im Notfall" in ihrem Sinne entscheiden – aber natürlich nichts, was sie nicht selbst will!

Muss ich den Wunsch meiner Mutter erfüllen? Der Anwalt sagt: ja

So was scheint eher die Regel denn die Ausnahme. Auch eine andere Tochter im Online-Forum schrieb verzweifelt: "Muss ich für meine leicht demente Mutter wirklich einen neuen Kardiologen finden, obwohl das fast unmöglich ist – nur weil sie den alten, mit dem wir zehn Jahre völlig zufrieden waren, plötzlich ablehnt?" Ich dachte spontan, also bitte, das wäre ja total crazy. Doch der Fachkommentar des Anwalts darunter: "Ja, auch wenn Sie das nicht für sinnvoll halten, müssen Sie alles dafür tun, der Wunsch Ihrer Mutter geht vor." Wow. Und was ist mit den Wünschen und Möglichkeiten der anderen?

Es kümmern sich übrigens nicht nur gefühlt, sondern auch statistisch deutlich mehr Töchter um ihre Eltern als Söhne. Die "können das besser", sind durchs eigene Muttersein abgehärtet und allgemein besser im Training, ihr Eigenleben, ihre Pläne und Träume für das Wohl der Familie zurückzustellen. Aber ich bin jetzt immerhin auch Mitte 50! Jetzt habe ich gerade mal meine Kinder aus dem Haus und hätte zum ersten Mal seit 25 Jahren Alleinerziehendsein etwas "verantwortungsfrei". Ich habe es dringend nötig! Will auch mal verreisen und mich zwei Wochen nicht melden müssen, ich will meine Mutter – die alt, aber im Prinzip total gesund ist – einfach mal vergessen können und das Leben genießen. Aber mit guten Gewissen eben! Könnte Mama also nicht bitte, bitte in ein schönes Heim ziehen?

"Grundsätzlich ist es rechtlich nicht zulässig, eine Person gegen ihren Willen, also ohne ihre Einwilligung, am Verbleib eines bestimmten räumlichen Bereichs, z. B. der eigenen Wohnung, zu hindern. Wer gegen diesen natürlichen Willen der Person handelt, macht sich unter Umständen wegen Freiheitsentziehung strafbar", informiert pflegeberatung.de. Eine "Zwangseinweisung in ein Alten- oder Pflegeheim kann nur mit Genehmigung des Betreuungsgerichts erfolgen. Die Entscheidung, ob eine Person ins Heim verlegt wird, kann grundsätzlich weder von Angehörigen noch von Ärzt:innen getroffen werden".

Betreuung ist ein Vollzeitjob, den man outsourcen kann und darf

Und so gehen die Jahre dahin. Mittlerweile habe ich gelernt, dass diese "Vollmacht" mich total entmachtet. Die hilft nicht, nach Absprache und meinem besten Wissen und Gewissen für sie zu entscheiden und zu handeln, sondern verpflichtet, mir permanent den Kopf zu zerbrechen, wie man ihren Wunsch bzw. Befehl, bei aller Pflegebedürftigkeit "erst mit den Füßen voraus" ihr absolut null altersgerechtes Häuschen zu verlassen, realisieren kann.

Betreuung ist keine einfache "Liebespflicht": Allein die ganzen Termine, Anträge und Begutachtungen für Pflegestufen, Rechte wissen, den entsprechenden Pflegedienst organisieren: Das ist ein völlig fachfremder Vollzeitjob, den man tatsächlich auch outsourcen kann und darf. Wir sind auch nicht mehr die Jüngsten. Es gibt für niemanden eine Garantie auf 97 Jahre Leben, Lieben, Lachen.

Immerhin ein Gutes hat die Situation – für meine Kinder: Ich werde ihnen auf keinen Fall später zumuten, sich für meine Pflege und mein tägliches Wohlbefinden verantwortlich zu fühlen. Momentan plane ich mit meinen besten Freundinnen eine Wohngemeinschaft auf Kreta. Wer weiß, wie alt und wie schräg wir vielleicht noch werden! Da werde ich mich rechtzeitig wegorganisieren. Und mich von Herzen freuen, wenn meine Kinder mich besuchen kommen.

Brigitte

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