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Collien Ulmen-Ferrnandes "Mädchen halten sich für weniger stark" – ein Interview über die Macht von Genderrrollen

Collien Ulmen-Fernandes
Collien Ulmen-Fernandes
© Gisela Schober / Getty Images
Was wir sehen prägt uns – Collien Ulmen-Fernandes macht sich dafür stark, mit veralteten Geschlechterrollen zu brechen. Warum sie das tut und was sie dazu gebracht hat, verrät sie im großen BRIGITTE-Interview.

„Jungen weinen nicht“ oder „Mädchen sind nett“ – jeder kennt diese zunächst harmlos wirkenden Sätze. Was Genderklischees aber wirklich mit uns machen und welche möglichen Auswirkungen sie auf unsere Zukunft haben, besprechen wir im Interview mit Moderatorin und Kinderbuch-Autorin Collien Ulmen-Fernandes.

Collien Ulmen-Fernandes räumt mit Genderklischees auf

Wie kam es dazu, dass du dich mit stereotypen Geschlechterrollen auseinandergesetzt hast, und warum war es dir so ein Anliegen, damit zu arbeiten oder darüber aufzuklären?

Ich hatte immer wieder mit Geschlechterklischees zu tun, war mir aber dessen gar nicht so bewusst. Weil ich ein mädchenhafter Typ Frau bin, werden mir gewisse Dinge unterstellt. Das Gleiche habe ich auch bei meiner Tochter bemerkt. Sie kam aus dem Kindergarten und erzählte: „Du Mama, Hip-Hop, Skateboard, Ninjago, das sind alles keine Mädchensachen, das ist nur etwas für Jungs.“ 

Also hat die Reflexion bei dir selbst angefangen, bevor das Thema in deine Arbeit mit eingeflossen ist? 

Ja, definitiv. Wenn ich in das Kinderbuchregal meiner Tochter geschaut habe, habe ich fast zu 100 Prozent Bücher gefunden, in denen Mütter die Kinder zu Bett bringen. In einem Buch war die Mutter abends verabredet, also mussten sich die Kinder selbst ins Bett bringen – wo der Vater ist, wird mit keiner Silbe erwähnt. Die Rollenbilder in Kinderbüchern, Kinderfilmen, Kinderserien sind wahnsinnig stereotyp: Papa arbeitet, Mama umsorgt sie Kinder.

Ich glaube auch, dass es wenig Auswahlmöglichkeiten gibt und wenn, wird meist auf das binäre „männlich/weiblich“ runterreduziert, ohne dass von „Kindern“ im Allgemeinen gesprochen wird. Wie siehst du das?

Ich glaube, dass bei diesem Thema viel unterbewusst stattfindet. Bei „Lotti und Otto“ Teil 2, habe ich, als wir anfingen an dem Buch zu arbeiten, zunächst in Exposéform runter geschrieben, was passieren soll. An einer Stelle stand, dass eine Person mehr weiß, als die anderen. Vom Verlag kam prompt zurück: "Herr Hase", und ich dachte mir: "Moment – wieso ein Mann?". Als ich sagte, dass ich lieber eine Frau haben möchte, wurde automatisch ein Typ Nerd vorgeschlagen mit dicker Brille. Auch das ist wieder so ein erlerntes Bild, so kennen wir es aus Filmen und Serien. Wenn eine Frau mehr weiß, muss sie gleich nerdig sein. Ich wollte sie aber ganz klassisch mädchenhaft: mit rosa Kleid und langem Haar. Der Typ, der sonst immer als Dummchen inszeniert wird. Dadurch denken viele Mädchen "ich kann gar nicht schlau sein", weil wir das alle so gelernt haben, dass Mädchen, die einem gewissen Stereotyp entsprechen, nichts auf dem Kasten haben. 

Mädchen dürfen Fußball lieben und Jungs ängstlich sein

Was häufig passiert ist, dass Mädchen einfach sehr burschikos/androgyn dargestellt werden. Ein Mädchen kann aber auch sehr puppenhaft sein, aber trotzdem Fußball lieben …

Das finde ich einen sehr wichtigen Aspekt. Ich habe das oft erlebt, dass ich in einer Talksendungen sitze und online Kommentare kamen wie: „Die will sich gegen Geschlechterklischees einsetzen, die trägt doch Lippenstift – boah ist die hohl.“ Aber genau darum geht es da, dass einem nicht aufgrund des Lippenstifts gewisse Eigenarten zugeschrieben werden. Ich trage gerne Lippenstift und heimwerke. Ich kann auch mit Lippenstift im Gesicht eine Wand einreißen. Darum geht es: Sich frei zu machen von erlernten Bildern. Mal entspricht man dem Klischee, mal nicht – beides ist miteinander vereinbar.

Glaubst du, dass das Gendern oder das Nennen beider Personenbezeichnungen einen positiven Einfluss auf Kinder hat? Und wenn ja, welchen?

Ich glaube, dass viele die Wichtigkeit dessen unterschätzen. In Drehbüchern – und das ist für mich eigentlich DAS Beispiel schlechthin – hat man oft einen Männeranteil von zwei Dritteln und das liegt unter anderem am generischen Maskulinum. Die Ein-Drehtags-Rollen haben oft keinen Namen, sondern werden via Berufsbezeichnung genannt. Wenn im Drehbuch "Rolle Briefträger", "Rolle Polizist", "Rolle Sachbearbeiter" steht, wird sie eben automatisch mit einem Mann besetzt, auch wenn das Geschlecht für die Handlung völlig irrelevant ist. Man denkt nicht daran, dass "Rolle Briefträger" ja auch eine Frau sein könnte. Daher ist es so wichtig, dass da Briefträger/Briefträgerin steht oder eben kürzer: Briefträger:in. Und schon sind wir beim Gendern. 

Wann hast du bei deiner Tochter oder generell bei Kindern beobachtet, dass Geschlechterzuschreibungen anfangen eine Rolle zu spielen?
Was ich wahnsinnig entlarvend fand, war als ich bei "No More Boys and Girls" mit einem "Hau den Lukas" in die Schule marschiert bin und die Kinder gebeten habe, ihren Namen dort hinzukleben, wo sie meinen, dass sie landen werden. Die Mädchen klebten ihren Namen irgendwo bei 10-20 hin und die Jungs bei 80-100. Tatsächlich gibt es aber in der physischen Kraft keinen Unterschied zwischen Jungs und Mädchen, der kommt erst mit der Pubertät, aber Mädchen halten sich für weniger stark. Das haben sie so gelernt.
Auf Produkten für Jungs stehen Attribute wie stark und mutig. Auf Mädchenprodukten findet man diese nicht. Während auf dem Jungsprodukt "Für starke Kämpfer" steht, steht auf dem Pendant für Mädchen "Für liebliche Prinzessinen". Zart und lieblich sollen Mädchen sein.
Ja, und auch in die andere Richtung. Jungs wird eine toxische Maskulinität antrainiert und wenn sie aus dem Rahmen fallen, gemobbt werden. Was sind deine Erfahrungen?
Es gibt Studien zu dem Thema, die besagen, dass kleine Jungs sehr viel weniger Worte haben für ihre Gefühle, weil sie es so gelernt haben, dass sie als Jungs eher nicht über ihre Gefühle sprechen, nicht weich sein dürfen.
Es ist voll ok als Junge ängstlich zu sein, es ist voll ok als Junge sensibel zu sein, Jungs müssen sich dafür nicht schämen, aber leider lernen sie es so. Auch, weil sie in erster Linie Rolemodels haben, die vor allem stark und furchtlos sind.
Hast du Geschlechterzuschreibungen, die dich am meisten stören?
Man merkt, dass bei den Mädchen gerade viel im Umbruch ist. Die Jungs kommen, was das Thema angeht, gerade ein bisschen zu kurz. Ich habe viele Zuschriften bekommen von Jungsmüttern, die mir schrieben: „Mein Sohn möchte gerne Glitzerhaarspangen tragen, wird dann aber geärgert“. Ich habe in Teil zwei daher Otto stärker in den Fokus genommen: Dass er seine Blumenshirts hat, mit denen er sich nicht traut rauszugehen, weil die anderen Jungs das uncool finden könnten, so denkt er. Mädchen-Empowerment findet gerade schon vermehrt statt, ich wünsche mir nun einen stärkeren Fokus auf die Geschlechterklischees, denen Jungs ausgesetzt sind.
Planst du noch einen dritten Teil von Lotti und Otto?
Wir sind gerade dabei. Die nächste Idee: Vorlesegeschichten von „Lotti und Otto“ für ältere Kinder, weil eben viele Eltern uns geschrieben haben: „Mensch, das ist schade, meine Kinder sind jetzt etwas älter, aber ich finde das Thema auch für sie total wichtig“. Ich sehe das jetzt bei meiner Tochter, Mädchen vor der Pubertät sind auch extremen Geschlechterklischees ausgesetzt. Die Welt für vorpubertäre Mädchen besteht gefühlt nur aus Glitzer und Shopping. Ich bin daher auch ein großer Fan von „Good Night Stories for Rebel Girls“, das jungen Mädchen aufzeigt, dass es außer Topmodel und Prinzessin auch noch andere Berufsoptionen für sie gibt. Erfinderin oder Politikerin zum Beispiel. Ich freue mich daher sehr, dass wir nun zusammenarbeiten und ich das Hörbuch dieser tollen Reihe einlesen darf. 
Verwendete Quellen: instagram.com
Brigitte

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