„Jungen weinen nicht“ oder „Mädchen sind nett“ – jeder kennt diese zunächst harmlos wirkenden Sätze. Was Genderklischees aber wirklich mit uns machen und welche möglichen Auswirkungen sie auf unsere Zukunft haben, besprechen wir im Interview mit Moderatorin und Kinderbuch-Autorin Collien Ulmen-Fernandes.
Collien Ulmen-Fernandes räumt mit Genderklischees auf
Wie kam es dazu, dass du dich mit stereotypen Geschlechterrollen auseinandergesetzt hast, und warum war es dir so ein Anliegen, damit zu arbeiten oder darüber aufzuklären?
Ich hatte immer wieder mit Geschlechterklischees zu tun, war mir aber dessen gar nicht so bewusst. Weil ich ein mädchenhafter Typ Frau bin, werden mir gewisse Dinge unterstellt. Das Gleiche habe ich auch bei meiner Tochter bemerkt. Sie kam aus dem Kindergarten und erzählte: „Du Mama, Hip-Hop, Skateboard, Ninjago, das sind alles keine Mädchensachen, das ist nur etwas für Jungs.“
Also hat die Reflexion bei dir selbst angefangen, bevor das Thema in deine Arbeit mit eingeflossen ist?
Ja, definitiv. Wenn ich in das Kinderbuchregal meiner Tochter geschaut habe, habe ich fast zu 100 Prozent Bücher gefunden, in denen Mütter die Kinder zu Bett bringen. In einem Buch war die Mutter abends verabredet, also mussten sich die Kinder selbst ins Bett bringen – wo der Vater ist, wird mit keiner Silbe erwähnt. Die Rollenbilder in Kinderbüchern, Kinderfilmen, Kinderserien sind wahnsinnig stereotyp: Papa arbeitet, Mama umsorgt sie Kinder.
Ich glaube auch, dass es wenig Auswahlmöglichkeiten gibt und wenn, wird meist auf das binäre „männlich/weiblich“ runterreduziert, ohne dass von „Kindern“ im Allgemeinen gesprochen wird. Wie siehst du das?
Ich glaube, dass bei diesem Thema viel unterbewusst stattfindet. Bei „Lotti und Otto“ Teil 2, habe ich, als wir anfingen an dem Buch zu arbeiten, zunächst in Exposéform runter geschrieben, was passieren soll. An einer Stelle stand, dass eine Person mehr weiß, als die anderen. Vom Verlag kam prompt zurück: "Herr Hase", und ich dachte mir: "Moment – wieso ein Mann?". Als ich sagte, dass ich lieber eine Frau haben möchte, wurde automatisch ein Typ Nerd vorgeschlagen mit dicker Brille. Auch das ist wieder so ein erlerntes Bild, so kennen wir es aus Filmen und Serien. Wenn eine Frau mehr weiß, muss sie gleich nerdig sein. Ich wollte sie aber ganz klassisch mädchenhaft: mit rosa Kleid und langem Haar. Der Typ, der sonst immer als Dummchen inszeniert wird. Dadurch denken viele Mädchen "ich kann gar nicht schlau sein", weil wir das alle so gelernt haben, dass Mädchen, die einem gewissen Stereotyp entsprechen, nichts auf dem Kasten haben.
Mädchen dürfen Fußball lieben und Jungs ängstlich sein
Was häufig passiert ist, dass Mädchen einfach sehr burschikos/androgyn dargestellt werden. Ein Mädchen kann aber auch sehr puppenhaft sein, aber trotzdem Fußball lieben …
Das finde ich einen sehr wichtigen Aspekt. Ich habe das oft erlebt, dass ich in einer Talksendungen sitze und online Kommentare kamen wie: „Die will sich gegen Geschlechterklischees einsetzen, die trägt doch Lippenstift – boah ist die hohl.“ Aber genau darum geht es da, dass einem nicht aufgrund des Lippenstifts gewisse Eigenarten zugeschrieben werden. Ich trage gerne Lippenstift und heimwerke. Ich kann auch mit Lippenstift im Gesicht eine Wand einreißen. Darum geht es: Sich frei zu machen von erlernten Bildern. Mal entspricht man dem Klischee, mal nicht – beides ist miteinander vereinbar.
Glaubst du, dass das Gendern oder das Nennen beider Personenbezeichnungen einen positiven Einfluss auf Kinder hat? Und wenn ja, welchen?
Ich glaube, dass viele die Wichtigkeit dessen unterschätzen. In Drehbüchern – und das ist für mich eigentlich DAS Beispiel schlechthin – hat man oft einen Männeranteil von zwei Dritteln und das liegt unter anderem am generischen Maskulinum. Die Ein-Drehtags-Rollen haben oft keinen Namen, sondern werden via Berufsbezeichnung genannt. Wenn im Drehbuch "Rolle Briefträger", "Rolle Polizist", "Rolle Sachbearbeiter" steht, wird sie eben automatisch mit einem Mann besetzt, auch wenn das Geschlecht für die Handlung völlig irrelevant ist. Man denkt nicht daran, dass "Rolle Briefträger" ja auch eine Frau sein könnte. Daher ist es so wichtig, dass da Briefträger/Briefträgerin steht oder eben kürzer: Briefträger:in. Und schon sind wir beim Gendern.