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E. M. Forster: "Zimmer mit Aussicht"

Band 5 der BRIGITTE Buch-Edition "Die Liebesromane": Mit feiner Ironie und Leichtigkeit rechnet Edward Morgan Forster in "Zimmer mit Aussicht" mit den leeren Konventionen der viktorianischen Gesellschaft ab.

Das Buch

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Florenz, Anfang des vergangenen Jahrhunderts: Während einer Bildungsreise verliebt sich die junge Engländerin Lucy Honeychurch in den temperamentvollen Freigeist George Emerson. Ihre Cousine, die Lucy als sittenstrenge Anstands dame begleitet, ist entrüstet: Denn diesen Mann hält sie gesellschaftlich für völlig unpassend. Rasch reist sie mit Lucy zurück nach England; dort soll sie sich mit dem wohlerzogenen, aber überaus langweiligen Cecil Vyse verloben. Allerdings hat niemand der Beteiligten mit den Launen des Schicksals und der Macht der Gefühle gerechnet. Am wenigsten Lucy selbst.

Mit feiner Ironie und Leichtigkeit rechnet Edward Morgan Forster mit den erstarrten Umgangsformen und leeren Konventionen der viktorianischen Gesellschaft ab.

Der Autor

Edward Morgan Forster (1879 – 1970) gilt als einer der bedeutendsten englischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Sein Roman "Zimmer mit Aussicht" wurde 1985, mit Helena Bonham Carter und Julian Sands in den Hauptrollen, werkgetreu verfi lmt und erhielt drei Oscars. Zu Forsters literarischen Erfolgen gehören auch "Wiedersehen in Howards End", "Engel und Narren" und "Auf der Suche nach Indien".

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Leseprobe "Zimmer mit Aussicht"

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Pension Bertolini "Dazu hatte die Signora kein Recht", empörte sich Miss Bartlett, "in gar keiner Weise! Sie hat uns Südzimmer mit schöner Aussicht versprochen, gleich nebeneinander, und jetzt sind es Nordzimmer, die auf den Hof hinausgehen und auch noch weit auseinander liegen. Ach, Lucy!"

"Und eine waschechte Londonerin ist sie auch noch!" sagte Lucy, die der unerwartete Cockney-Akzent der Signora zusätzlich betrübt hatte. "Als ob hier West- Minster wäre!" Sie ließ den Blick über die beiden Reihen von Engländern schweifen, die sich am Tisch gegenübersaßen; über die Reihe weißer Wasser- und roter Weinflaschen zwischen den Reihen der Engländer; über die Portraits der verstorbenen Queen und des verstorbenen poeta laureatus, die schwer gerahmt hinter den Engländern hingen; und über die Bekanntmachung der englischen Kirche (Rev. Cuthbert Eager, M.A. Oxon.), die den einzigen weiteren Wandschmuck bildete. "Charlotte, hast du nicht auch das Gefühl, wir könnten genausogut in London sein? Ich kann kaum glauben, daß es draußen alle möglichen anderen Sachen gibt. Vermutlich liegt das daran, daß man so abgespannt ist."

"Auf diesem Fleisch hat man bestimmt schon eine Bouillon gekocht", sagte Miss Bartlett und legte die Gabel nieder. "Und ich hatte mich so sehr auf den Arno gefreut! Die Zimmer, die die Signora uns in ihrem Brief versprochen hatte, sollten auf den Arno hinausgehen. Die Signora hatte in keiner Weise ein Recht dazu. Ach, zu schade!" "Mir ist ja jede Kammer recht", fuhr Miss Bartlett fort, "aber daß du keine schöne Aussicht genießen sollst, ist schon ein Kreuz."

Lucy fürchtete, egoistisch gewesen zu sein. "Charlotte, du sollst mich nicht verwöhnen; selbstverständlich mußt auch du einen schönen Blick auf den Arno haben. Das habe ich wirklich ernst gemeint. Das erste Zimmer nach vorn hinaus, das frei wird ..." "Mußt du bekommen", sagte Miss Bartlett, deren Reisekosten zum Teil von Lucys Mutter bezahlt wurden – eine Großzügigkeit, auf die sie häufig taktvoll anspielte. "Nein, nein. Du!" "Ich bestehe darauf. Deine Mutter würde mir das nie verzeihen, Lucy." "Mir würde sie das nie verzeihen."

Die Stimmen der Damen wurden lauter, verrieten aber auch – wenn es denn unbedingt gesagt werden muß – eine gewisse Gereiztheit. Sie waren abgespannt und zankten sich, wiewohl sie so taten, als überböten sie einander an Selbstlosigkeit. Einige ihrer Nachbarn wechselten bereits Blicke, und einer von ihnen – einer jener Leute ohne Kinderstube, wie man ihnen im Ausland begegnete – besaß sogar die Stirn, sich vorzulehnen und in ihren Streit einzumischen. Er sagte: "Ich habe ein Zimmer mit schöner Aussicht, ich habe eins." Miss Bartlett fuhr erschrocken zusammen.

Für gewöhnlich beobachteten Pensionsgäste sie erst ein oder zwei Tage lang, ehe sie sie ansprachen – und fanden oft erst nach ihrer Abreise heraus, ob sie nun 'passend' gewesen wären oder nicht. Sie wußte, daß der, der sich einmischte, keine Manieren hatte; sie brauchte ihn sich erst gar nicht anzusehen. Er war ein alter Mann von massiger Statur mit offenem glattrasierten Gesicht und großen Augen. Diese Augen hatten etwas Kindliches, wenngleich es nicht die Kindlichkeit der Senilität war. Was genau es wäre – die Mühe, das herauszufinden, machte Miss Bartlett sich nicht; ihr Blick wanderte hinunter zu seinem Anzug, der ihr freilich keinen Eindruck machte. Wahrscheinlich bemühte er sich, ihre Bekanntschaft zu machen, ehe er wußte, mit wem er es zu tun hatte. Sie tat daher etwas verwirrt, als er sie ansprach, und sagte dann: "Eine schöne Aussicht? Ach, eine schöne Aussicht! Wie bezaubernd, eine schöne Aussicht zu haben!"

"Das hier ist mein Sohn", sagte der alte Mann. "Er heißt George. Er hat auch eine schöne Aussicht." "Ah", machte Miss Bartlett und ließ Lucy, die schon im Begriff stand, etwas zu sagen, gar nicht erst zu Wort kommen. "Was ich meine", fuhr er fort, "ist, Sie können unsere Zimmer bekommen. Und wir nehmen Ihre. Wir tauschen einfach." Die besseren Kreisen angehörenden Touristen waren schockiert und hatten Mitgefühl mit den Neuankömmlingen. Miss Bartlett gab sich möglichst schmallippig, als sie auf das Angebot einging, und sagte: "Haben Sie vielen Dank, aber das kommt überhaupt nicht in Frage." "Warum nicht?" sagte der alte Mann, beide Fäuste auf dem Tisch. "Weil es einfach nicht in Frage kommt. Vielen Dank." "Ach, wissen Sie, wir nehmen nicht gern ...", begann Lucy. Abermals ließ ihre Cousine sie nicht zu Wort kommen. "Aber warum?" Er ließ nicht locker. "Frauen machen sich was aus einer schönen Aussicht; Männer nicht." Woraufhin er mit beiden Fäusten auf die Tischplatte hieb wie ein ungezogenes Kind, sich seinem Sohn zuwandte und sagte: "George, überrede sie!" 2Es liegt doch auf der Hand, daß sie die Zimmer haben sollten", erklärte der Sohn. "Dazu ist nichts weiter zu sagen."

Er sah die Damen bei diesen Worten nicht an, doch seine Stimme verriet Verlegenheit und Bekümmernis. Auch Lucy war peinlich berührt, erkannte jedoch, daß ihnen das bevorstand, was man eine 'richtige Szene' nennt, und sie hatte das unheimliche Gefühl, daß der Streit sich jedesmal, wenn diese Touristen ohne Kinderstube den Mund aufmachten, ausweiten und vertiefen würde, bis es überhaupt nicht mehr um Zimmer und schöne Aussichten ging, sondern um etwas ganz anderes, wovon sie bisher gar nicht gewußt hatte, daß es das überhaupt gab. Jetzt wurde der alte Mann geradezu hitzig: Warum sie denn nicht tauschen wolle? ereiferte er sich. Was sie denn nur dagegen habe? In einer halben Stunde würden sie die Zimmer geräumt haben.

Wiewohl gewandt in den Feinheiten der Konversation – angesichts brutaler Gewalt war Miss Bartlett ohnmächtig. Einem so groben Klotz vermochte sie keinen Keil aufzusetzen. Ihr Gesicht rötete sich vor Mißvergnügen, und sie sah sich um, als wollte sie sagen: 'Sind Sie etwa alle so?' Woraufhin zwei kleine alte Damen, die ein wenig weiter oben am Tisch saßen und das Umschlagetuch über der Stuhllehne hängen hatten, aufblickten und deutlich zu erkennen gaben: 'Nein, wir nicht; wir gehören zur feinen Gesellschaft.'

"Iß doch weiter, meine Liebe", wandte sie sich an Lucy und spielte wieder mit dem Fleisch, über das sie sich zuvor so mißbilligend ausgelassen hatte. Lucy meinte murmelnd, das seien schon sehr merkwürdige Leute, die ihnen gegenüber. "Iß nur weiter, meine Liebe. Diese Pension ist ein Reinfall. Morgen ziehen wir anderswo hin."

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