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Dai Sijie: "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin"

Band 2 der BRIGITTE Buch-Edition "Die Liebesromane": Dai Sijie schreibt poetisch und humorvoll über zwei clevere Jungen, ein Mädchen mit den schönsten Augen der Provinz - und über den Trost, den Bücher spenden können.

Das Buch

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China, 1971: Die Kulturrevolu tion ist in vollem Gang. Der 17-jährige Erzähler und sein Freund Luo werden zur "Umerziehung" in ein abgelegenes Bergdorf verbannt. Die beiden gelten als Intellektuelle und Volksfeinde. Doch sie sind pfiffig, und es gelingt ihnen immer wieder, sich der schweren kör perlichen Arbeit zu entziehen: Der Erzähler verzaubert die Dorfbewohner mit seiner Geige. Und Luo kann meisterhaft Geschichten vortragen. Deshalb schickt sie der Ortsvorsteher einmal im Monat in die Kreisstadt ins Kino – damit sie bei ihrer Rückkehr die neuen Filme nacherzählen können. Was die beiden Jungen aber schließlich rettet, ist ihre Liebe zu einer kleinen Schneiderin – und eine Kiste mit verbotenen Büchern von Balzac, Dumas, Flaubert, Dickens und Dostojewski.

Der Autor

Dai Sijie wurde 1954 in der Provinz Fujian in China geboren. Von 1971 bis 1974 musste er in einem Umerziehungslager arbeiten. Nach der so genannten Kulturrevolution studierte er Kunstgeschichte. Seit 1984 lebt er in Paris, wo er sich zunächst als Filmemacher einen Namen gemacht hat. "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin" verhalf ihm zum literarischen Durchbruch.

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Leseprobe "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin"

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Der Laoban saß mit untergeschlagenen Beinen neben der Erdfeuerstelle und inspizierte im Schein der glimmenden Kohle meine Geige. Es war der einzige Gegenstand im Gepäck der "zwei Grünschnäbel" aus der Stadt – damit waren Luo und ich gemeint –, der etwas Fremdländisches, den Geruch von Zivilisation an sich hatte, was natürlich gleich den Verdacht des Laoban, des Dorfvorstehers, erregt hatte.

Ein Bauer brachte eine Petroleumlampe, um die Identifikation des Gegenstandes zu erleichtern. "Ho-ho, was haben wir denn da." Der Laoban hielt die Geige senkrecht hoch, um wie ein pingeliger Zollbeamter, der nach Drogen sucht, mißtrauisch durch das Schalloch in den dunklen Resonanzkasten zu spähen. Ich bemerkte drei kirschrote Blutstropfen in seinem linken Auge: zwei kleine und einen größeren. Er hielt die Geige vor die Augen, schüttelte sie kräftig, offenbar felsenfest überzeugt, daß etwas herausfallen mußte. Ich fürchtete, daß die Saiten gleich reißen und die Wirbel in alle Richtungen davonfliegen würden.

Das Dorf war fast vollzählig vor dem etwas abseits stehenden Haus versammelt. Männer, Frauen und Kinder umringten uns neugierig, hingen in Trauben an der Stiege, streckten die Köpfe aus dem Fenster. Aus meinem Instrument fiel jedoch nichts. Also hielt der Laoban schnüffelnd die Nase ans geheimnisvolle Schalloch; die paar langen, dicken, popeligen Haare in seinen Nasenlöchern zitterten.

Nichts. Keinerlei Indizien.

Er fuhr mit seinem schwieligen Zeigefinger über eine Saite, über eine zweite Saite ... entlockte ihnen einen fremdartigen Ton, der die Menge andächtig erstarren ließ. "Es handelt sich um ein Spielzeug", erklärte der Laoban feierlich. Seine Schlußfolgerung verschlug uns die Sprache. Wir blickten uns kurz an. Ich fragte mich besorgt, wie das Ganze noch enden würde. Ein Bauer nahm dem Laoban das "Spielzeug" aus den Händen, hämmerte mit der Faust auf dem Boden des Instruments herum, reichte es dann an seinen Nachbar weiter, und meine Geige ging von Hand zu Hand. Niemand kümmerte sich um uns, die zwei lächerlichen Hänflinge aus der Stadt.

Wir waren den ganzen Tag durch Berg und Tal marschiert, unsere Kleider, unsere Gesichter, unsere Haare starrten vor Schmutz. Wir konnten uns kaum mehr auf den Beinen halten. Wir sahen aus wie zwei jämmerliche reaktionäre Soldaten aus einem Propagandafilm, die nach einer verlorenen Schlacht von einer Heerschar kommunistischer Soldaten gefangengenommen worden waren. "Ein kindisches Spielzeug", kreischte eine Frau. "Nein", berichtigte der Laoban, "ein typisch bourgeoises Spielzeug aus der Stadt." Mich fröstelte trotz des flackernden Feuers in der Mitte des festgetrampelten Hofes. "Es muß verbrannt werden", hörte ich den Laoban sagen.

Sein Befehl löste auf der Stelle heftige Reaktionen aus. Alle redeten wild durcheinander, schrien, drängten sich nach vorn; jeder versuchte, sich des "bourgeoisen Spielzeugs" zu bemächtigen, um es eigenhändig ins Feuer zu werfen.

"Laoban", sagte unerwartet Luo freundlich lächelnd, "das ist ein Musikinstrument. Mein Freund ist ein guter Musikant, ehrlich." Die Menge verstummte. Der Laoban griff nach der Geige, inspizierte sie nochmals gründlich von allen Seiten und hielt sie mir dann hin. "Tut mir leid, Laoban", sagte ich verlegen, "ich spiele nicht besonders gut." In dem Moment sah ich, daß Luo mir zuzwinkerte. Ich nahm also die Geige und begann sie zu stimmen.

"Mein Freund wird eine Sonate von Mozart spielen", verkündete Luo gelassen. Ich fragte mich erschrocken, ob er vielleicht übergeschnappt war. Seit ein paar Jahren waren in China sämtliche Werke Mozarts oder sonst eines westlichen Komponisten verboten. Meine durchnäßten Füße in den aufgeweichten Schuhen fühlten sich wie Eisklumpen an. Ich bibberte vor Kälte. "Eine Sonate? Was ist das?" fragte mich der Laoban mißtrauisch. "Nun ... also ... wie soll ich Ihnen das erklären", stammelte ich. "Ein Lied?" "Etwas in der Art ...", antwortete ich ausweichend. Auf der Stelle flackerte die Wachsamkeit eines echten Kommunisten in den Augen des Laoban auf, und seine Stimme verhieß nichts Gutes: "Und wie nennt sich dieses Lied?" "Also ... es hört sich an wie ein Lied, aber es ist eine Sonate." "Ich hab dich gefragt, wie es heißt!" brüllte er mich an. Ich konnte den Blick nicht von den drei gruseligen Blutstropfen in seinem Auge wenden. "Mozart ...", antwortete ich zögernd. "Mozart was?" "... Mozart ist mit seinen Gedanken immer beim Großen Vorsitzenden Mao", kam mir Luo zu Hilfe. Mir stockte der Atem. Doch Luos kühne Erklärung wirkte Wunder: Die Gesichtszüge des Laoban entspann- ten sich. Er kniff die Augen zusammen, und sein Mund verzog sich zu einem breiten, seligen Lächeln. "Mozart ist mit seinen Gedanken immer beim Großen Vorsitzenden Mao", wiederholte er andächtig. "Ja, immer, Tag und Nacht", bekräftigte Luo.

Als ich die Saiten meines Bogens spannte, begann die Menge aufmunternd in die Hände zu klatschen, was mich jedoch nur noch mehr einschüchterte. Meine klammen Finger fuhren über die Saiten – und Mozarts vertraute Sätze stiegen in meiner Erinnerung auf.

Die eben noch harten Gesichter der Bauern weichten bei Mozarts klarem Jubel auf wie die vom Regen durchnäßte Erde; dann verschmolzen ihre Umrisse im tanzenden Licht der Petroleumlampe nach und nach mit der Dunkelheit. Ich spielte eine ganze Weile, während Luo sich ruhig eine Zigarette ansteckte wie ein richtiger Mann. Das war unser erster Umerziehungstag. Luo war achtzehn, ich siebzehn.

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