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"Wie wir unsere Ängste lieben lernen"

BRIGITTE.de-Leserin Lisa Sundermeyer ist Heilpraktikerin für Psychotherapie und weiß, wie man Ängste positiv für sich nutzt.

Wenn das Leben von der Angst bestimmt wird

Juliane schwitzt. Ihr Gesicht wirkt starr, während sie über ihre Angst spricht. Wenn sie sich in geschlossenen Räumen aufhält, die sie nicht einfach verlassen kann – im Zug, im Flugzeug, in der Uni – bekommt sie Panik. Die Angst lähmt sie. Plötzlich versagen ihr die Knie, Übelkeit überwältigt sie, ihr Solarplexus und ihr Brustkorb ziehen sich zusammen, ihre Hände schwitzen. Hitze steigt in ihr auf, ihr wird schwindelig. Ihr Verstand sagt ihr, sie sei verrückt, weil ja eigentlich alles in Ordnung ist – keine Gefahr weit und breit. Trotzdem muss sie aus der S-Bahn aussteigen. Juliane ist 21, und ihr ganzes Leben wird von Angst bestimmt.

Aus der Abenteurerin, die nach der Schule um die ganze Welt gereist ist, ist innerhalb des letzten Jahres ein Häufchen Elend geworden. Sie gesteht, schon an Selbstmord gedacht zu haben, weil die Angst sie so weit im Griff hat, dass sie nicht mehr reisen, nicht mehr zur Uni gehen kann. Der Weg zu Freunden oder eine Reise in die Heimat sind unmöglich geworden.

Während sie mir von ihrem alptraumhaften Alltag erzählt, beobachte ich ihren Körper aufmerksam. Sie atmet nur noch flach und schwitzt. Ihre Schultern sind bis unter die Ohren hochgezogen, ihr Bauch ist verkrampft. Sie kennt diese Anspannung als Teil der Angst. Aber noch nie ist ihr die Idee gekommen, dass ihre Anspannung auch der Weg aus der Angst sein könnte.

Wir alle kämpfen irgendwann damit

Seit über zehn Jahren kommen Menschen zu mir, um zu lernen, aus dem Teufelskreis der Angst auszubrechen. Nicht jeder leidet unter Panikattacken. Führungskräfte mit geheimen Minderwertigkeitsgefühlen oder Schauspieler mit Versagensängsten gehören ebenfalls dazu.

Wir alle kämpfen im Laufe unseres Lebens mit Angst. Das Leben ist ungewiss und unkontrollierbar, wir können von einem Tag auf den anderen verlieren, was wir lieben oder bei etwas versagen, das uns viel bedeutet. Wir lernen von klein auf, der Angst aus dem Weg zu gehen, sie zu kontrollieren, wegzudrücken oder zu leugnen. Wir glauben, dass uns die Angst schwächt, unproduktiv macht und lähmt.

Das Problem: Wir wollen die Angst kontrollieren

Dabei ist es von der Natur anders gedacht: Wenn wir in Gefahr sind, stellt uns der Körper Energie zur Verfügung, damit wir uns wehren oder fliehen können. Die spürt Juliane als Hitze in ihrem Körper aufsteigen. Weil aber ihr Verstand die Rückmeldung gibt, dass es dafür keinen Anlass gibt, versucht sie, die Angst durch Anspannung unter Kontrolle zu bringen.

Wir alle haben schon einmal erlebt, wie der Magen sich zusammenzieht, der Brustkorb eng wird und sich die Muskeln anspannen, wenn wir Angst empfinden. Viele Menschen glauben, das sei die Angst. Dabei ist es vielmehr unsere Abwehrreaktion gegen sie. Wir spannen uns an, weil dadurch ein Gefühl von Halt im Körper entsteht, wenn sich der Kontrollverlust übermächtig und bedrohlich anfühlt. Wie ein Kind, das sich die Augen zuhält, um nicht gesehen zu werden, spannen wir uns an, um uns sicherer zu fühlen. Doch leider führt diese Anspannung nicht zu Sicherheit, sondern zu Lähmung und Hilflosigkeit.

Diese Starre ist zwar eine natürliche Reaktion auf übermächtige und aussichtslos erscheinende Situationen. Wenn wir uns in Gefahr nicht wehren oder fliehen können, ist der „Totstell-Reflex“ eine Überlebensfunktion. Allerdings reagieren wir heute damit in Situationen, die weder wirklich gefährlich noch aussichtslos sind – und rutschen so in Ohnmacht und Entsetzen.

Aber: Adrenalin kann Spaß machen!

In Situationen, in denen man das Adrenalin der Aufregung bejaht und nicht ablehnt, fühlt es sich oft ganz anders an. Wenn man sich verliebt hat oder Achterbahn fährt zum Beispiel. Dann kennt man das Flirren der Energie im ganzen Körper, die geröteten Wangen, den beschleunigten Herzschlag und die Rastlosigkeit. Nichts anderes sind die „Schmetterlinge im Bauch“. Frisch verliebt fühlt man sich auch mit nur wenig Schlaf und Essen wach und leistungsfähig.

Wenn meine Klienten lernen, sich mit der Angst zu entspannen, locker zu lassen, die Hitze aufsteigen zu lassen und gar nicht gegen die Erfahrung anzukämpfen, staunen sie oft, wie unglaublich kraftvoll und selbstbewusst sie sich danach fühlen. Wenn sie den Bauch loslassen und tief hineinatmen, steigt die Energie auf und verteilt sich kribbelnd wie 1000 Ameisen im ganzen Körper. Die Kontrolle in Form von Anspannung aufzugeben und sich fallenzulassen, lässt die Energie fließen. Der Körper fühlt sich danach nicht mehr gelähmt, sondern lebendig und wach an. Das ist für die meisten eine sehr angenehme Überraschung.

Ich begleite immer wieder Menschen durch diese Erfahrung. Es ist faszinierend zu sehen, wie sich ihr Zustand von Hilflosigkeit zu kraftvoller Handlungsfähigkeit verändert.

Zulassen, dass man keine Kontrolle hat

Wenn wir das Adrenalin akzeptieren und zulassen, dass wir gerade keine Kontrolle haben und sie auch nicht anstreben, sondern im Körper ganz locker lassen, werden aus Lähmung und Verkrampfung Energie und Kraft.

Denn dafür hat die Natur Adrenalin eigentlich vorgesehen: Damit wir uns mit dieser Energie wehren können, kämpfen oder rennen, wach und fokussiert sind.

Die Wissenschaft weiß heute, dass sich jede blockierte Emotion als Anspannung im Körper manifestiert. Der Schlüssel zur Auflösung von Julianes Ängsten liegt genau dort - in der Auflösung der Anspannung. Um das zu erreichen, lege ich meine Hände auf Julianes Schultern und suche die verhärteten Stellen.

Während ich ihre verkrampften Muskeln massiere, damit sie sich lösen, atmet sie in die Angst und spürt sie, ohne zu blockieren. Sie lässt die Hitze aufsteigen. Energiewellen durchfluten sie, sie schwitzt, Schauer laufen durch ihren ganzen Körper. Ein bisschen überwältigend, ein bisschen schrecklich und gleichzeitig wundervoll. Sehr intensiv.

Mit der Angst, statt gegen sie

Nach einer Stunde atmen, Bauch loslassen und Schultern entspannen kann sie kaum fassen, wie frei und gelöst sie sich fühlt, wenn sie die Angst zulässt. Es ist eine echte Überraschung für sie, dass die Angst sie nicht überflutet hat, wie es ihre Sorge war. Im Gegenteil: Ihre Wangen sind rosig, ihre Augen glänzen. Sie fühlt sich kräftig und nach langer Zeit wieder voller Lebensfreude. Sie ist auf einmal neugierig darauf, S-Bahn zu fahren, will rausfinden, was passiert, wenn sie mit der Angst geht, statt gegen sie.

Was bedeutet das im Alltag? In Situationen, in denen wir vor der Angst zurückscheuen und sie meiden, kann uns die Erfahrung helfen, dass sich Angst zu Kraft transformieren lässt.

Und das Leben wird wieder zum Abenteuer

Jede große Veränderung, jedes Wagnis im Leben, jede Ungewissheit ist begleitet von Angst und Aufregung. Was, wenn wir sie als Kraft in eben diesen Situationen nutzen könnten? Wenn wir durch den Energiekick mutiger werden und uns trauen, unsere Grenzen zu erweitern? Wie viel mehr Abenteuer könnte unser Leben dadurch bekommen?

Die Schriftstellerin Cornelia Funke sagte, „wie wunderbar glücklich und frei es macht, Dinge zu tun, vor denen man sich fürchtet“. Ich beobachte das bei meinen Klienten immer wieder, freue mich an ihrem Kraftzuwachs und lerne mit ihnen: Unsere Angst zu kontrollieren, schwächt uns, sie zuzulassen macht uns stärker.

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