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Helikoptereltern? Helikopterverwandtschaft!

Wer über Helikoptereltern jammert, macht es sich für Ninon Franziska Thiem zu einfach. Denn was ist mit all den Omas, Opas, Tanten und Onkels, die den Sprössling nie aus den Augen lassen? Und "Rabenmutter" schreien, sobald man ein Kind auf Entdeckertour gehen lässt? In der Leserkolumne "Stimmen" erzählt Thiem von der Angst der Verwandtschaft, die nicht nur dem Nachwuchs das Leben erschwert.

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Mein Sohn, 3, sitzt auf einer Schaukel und fordert: "Schneller, Papa!" Je höher er schaukelt, umso lauter lacht er. Die Oma steht daneben und zischt: "Nicht so hoch! Ich kann da nicht hinschauen!"

Mein Sohn läuft im Garten seiner Oma herum. Er kennt sich dort sehr gut aus, weil er schon häufig dort war. Seine Tante spielt mit ihm. Sie muss kurz etwas erledigen und bittet ihren Mann, auf ihn aufzupassen. Ich sage, dass mein Sohn nicht jede Sekunde überwacht werden muss. Sie antwortet: "Aber jede zweite!"

Wir sitzen bei der Oma in der Küche und unterhalten uns. Onkel und Neffe spielen zusammen nebenan im Wohnzimmer. Plötzlich taucht der verärgerte Onkel in der Küche auf und sagt zu seiner Frau: "Wir wollten doch schon längst los!" Sie antwortet: "Ich warte nur auf dich!" Er verärgert: "Ich kann doch unseren Neffen nicht allein im Wohnzimmer lassen!"

Diese drei Beispiele aus dem Alltag sollen an die Diskussion um die so genannten Helikoptereltern anknüpfen. Die Artikel und Berichte über sie greifen mir zu kurz, denn sie blenden die Gesellschaft, in der wir leben, völlig aus. Als Mutter erlebe ich in ständigen Diskussionen mit unserer Verwandtschaft, wie es ist, alleinige Vertreterin für das Recht meines Sohnes auf freie Entfaltung zu sein. Gerade die Fraktion der Über-50-Jährigen, die auf ihre größere Lebenserfahrung verweist - wobei ihre Erfahrungen mit kleinen Kindern ebenso lang her sind -, zeigt sich uneinsichtig.

Wir leben heute in einer Helikoptergesellschaft, in der gut meinende Menschen die Kinder dieser Welt sicher angeschnallt im Kinderwagen, im Fahrradsitz oder im Autositz (natürlich die mit der Bestnote in diversen Sicherheitstests) herumfahren. Überallhin werden die Kinder begleitet. Geschaukelt wird nur so hoch, wie die Angst des Anschaukelnden es zulässt. Der Papa, der da seinen Sohn so hoch schaukelt, dass er vor Freude lacht, der riskiert doch fahrlässig sein Leben. Es darf dem einzigen Kind, Neffen, Enkel nichts zustoßen, denn man liest und hört ja so viele schlimme Dinge.

Um es deutlich zu sagen, ich bin keine Helikoptermama. Mein Sohn darf auf Entdeckungstour gehen, an Böschungen klettern und auch hinfallen. Seitdem es ihn gibt, muss ich aber immer wieder darum kämpfen, dass er diese Freiheiten ausleben und diese Erfahrungen machen darf. Die Diskussionen mit der Oma, der Tante und dem Onkel habe ich nicht gezählt, so zahlreich sind diese. Alle würden ihren einzigen Enkel und Neffen gern in Watte packen. Ihre Waffe ist das gut gemeinte Argument, dass ihm bloß nichts passieren solle. Wie soll ich dagegen argumentieren, ohne dass ich als "Rabenmutter" dastehe?

Gegen diese irrationale Angst habe ich mir schon den Mund fusselig diskutiert. Auch wenn sämtliche Statistiken sagen, dass die Gefahr für Kinder im Allgemeinen zurückgegangen ist, so ist die persönliche Empfindung vor allem der ängstlichen Verwandtschaft doch eine andere. Mit ihrer Argumentation treffen sie einen wunden Punkt, denn ich möchte keinesfalls, dass meinen Sohn etwas passiert. So bin ich gefangen zwischen dem Wunsch, dass er sich ausprobieren kann, und meiner eigenen irrationalen Angst, ihn durch eine Unaufmerksamkeit zu verlieren. Passiert der worst case, ist mir und allen anderen die statistische Wahrscheinlichkeit sicher egal.

In einer Gesellschaft, in der nicht nur die Kinder pro Paar weniger werden, können sich die Tanten, Onkel und Großeltern um immer weniger Neffen, Nichten und Enkel kümmern. Der oder die Einzelne erhält einen höheren Stellenwert und damit nicht nur einen größeren Anteil an Geschenken. Der mögliche Verlust des einzigen Vertreters der jüngsten Generation weckt große Ängste und viel Energie, alles zu tun, um ihn zu beschützen. Insofern wird jede Bemühung um seine Sicherheit gutgeheißen und eifrig beklatscht.

In gewisser Hinsicht haben diese mahnenden Stimmen Recht. Diesen worst case kann niemand jemals völlig ausschließen. Auch ich bin nicht vor dieser Angst gefeit. Trotz meines Verständnisses dafür, dass sie wirklich nur das Beste für mein Kind wollen, begleite ich meinen Sohn durch seine Abenteuer. Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut, wie eine Freundin, ebenfalls Mutter, von mir immer wieder betont. Wenn er sagt "Mama, ich schaffe das schon", dann nicke ich ihm zu und ermutige ihn lächelnd in der Hoffnung, dass er meine innere Zerrissenheit nicht spürt. Wenn er hinfällt, tröste ich ihn und sage ihm, dass er es das nächste Mal sicher schafft. Wir bringen ihn zu Fuß zum Kindergarten und holen ihn auch so wieder ab. So lernt und übt er "nebenbei", wie er sich in Verkehrssituationen verhalten muss. Er soll nicht ängstlich, sondern selbstbewusst durch gelernte Kompetenzen durch sein Leben gehen.

Diese Diskussionen werden mir auch weiterhin nicht erspart bleiben, denn gegen diese Angst scheint kein Kraut gewachsen zu sein. Offenbar zeigt nur die Zeit, dass mein Weg, mein Kind beim Aufwachsen zu begleiten, nicht falsch ist. Wenn mir schon kein Glauben geschenkt wird, dann vielleicht meinem Sohn. Letzten Sonntag erzählte mir seine Oma ganz stolz, dass sie mit meinem Sohn auf dem Heimweg auf einer Straße ohne Gehweg entlang gegangen ist. Auf jedes Auto, das kam, hat er sie aufmerksam gemacht und gesagt: "Oma, da kommt ein Auto. Jetzt müssen wir an die Seite gehen und es vorbeifahren lassen."

Text: Ninon Franziska Thiem

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