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"Nicht der Tod selbst macht uns Angst, sondern das Sterben, das Gehenlassen, das Verlassenwerden"

Seit drei geliebte Menschen starben, ist der Tod in Britta Buths Leben sehr präsent. Und mit ihm die Angst, "dass schlimme Dinge wirklich passieren". In der Leserkolumne "Stimmen" schreibt sie, inwiefern das Sterben sie verändert hat - auch zum Positiven.
Britta Buth, 38, ist verheiratet und hat eine Tochter. Mit dem Tod hat sie sich aufgrund verschiedener Todesfälle im familiären Umfeld beschäftigt. Dabei fand sie es spannend, dass Kinder so offen und pragmatisch mit dem Tod umgehen, und hat versucht, diesen Umgang damit wieder zu erlernen. Auf dem gemalten Bild steht: "Mama, wie alt bist Du, wenn ich 78 bin?"
Britta Buth, 38, ist verheiratet und hat eine Tochter. Mit dem Tod hat sie sich aufgrund verschiedener Todesfälle im familiären Umfeld beschäftigt. Dabei fand sie es spannend, dass Kinder so offen und pragmatisch mit dem Tod umgehen, und hat versucht, diesen Umgang damit wieder zu erlernen. Auf dem gemalten Bild steht: "Mama, wie alt bist Du, wenn ich 78 bin?"
© privat

Natürlich weiß ich, dass ich eines Tages sterben werde. Aber im Alltag habe ich das Thema weit von mir geschoben. Ich erinnere mich daran, wie ich als Kind das erste Mal erahnt habe, was Sterben bedeutet. Ich habe schrecklich geweint. Das gleiche Verstehen habe ich bei meiner vierjährigen Tochter erlebt. "Mama", sagte sie, "wie alt bist Du, wenn ich 14 bin?". "Dann bin ich 46." "Und wie alt bist Du, wenn ich 46 bin?" "Dann bin ich 78." "Und wenn ich 78 bin?" "Hm....". Ihr Gesicht wurde ganz zittrig. "Bist Du dann tot?!" "Ja, dann bin ich wahrscheinlich tot." "Aber... aber dann vermiss ich Dich doch! Ich will nicht, dass Du tot bist!" Sie hat geweint und ich habe versucht, ihr zu erklären, dass es als 78-Jährige etwas ganz anderes ist, wenn Mama stirbt, als als Vierjährige... Auch wenn ich vermute, dass sie sich von mir nicht erst mit 78 verabschieden wird.

Jetzt bin ich 38. Und habe mittlerweile Menschen aus meiner Familie krank gesehen, ich habe sie mit Schmerzen gesehen, voller Hoffnung und irgendwann mit der Erkenntnis, dass es jetzt wirklich nichts mehr zu hoffen gibt. Ich habe sie sterben gesehen. Ich habe gesehen, wie sie immer langsamer geatmet haben und irgendwann gar nicht mehr. Und der Körper ganz still wurde. Wir haben uns die ganze Nacht lang über den Menschen unterhalten, wir haben neben ihm den Frühstückskaffee getrunken, während wir darauf warteten, dass der Bestatter kommt. Und ich habe gesehen, wie ein Mensch in einen Sarg gelegt und weggetragen wurde.

Sterben ist wie Kinderkriegen: Beides sind so ursprüngliche Dinge, dass wir uns gar nicht vorstellen können, wie sie sind, bis wir sie selbst erlebt haben. Mich hat das Sterben der anderen verändert. Es war schrecklich und es war gleichzeitig richtig. Es hat mir geholfen, zu verstehen. Abzuschließen, sich zu verabschieden. Wenn das Schlimmste, das man befürchtet, wirklich passiert, dann gibt es nur noch wenige Dinge auf der Welt, die wirklich schlimm sind. Was ist die größte Blamage bei der Arbeit im Vergleich dazu, mit einem Siebenjährigen darüber zu reden, dass sein Vater gestorben ist? Was macht es noch aus, vor 200 Leuten zu sprechen, wenn man einem Sterbenden gesagt hat, dass es okay ist, zu gehen? Was gibt es noch auf der Welt, was einen belasten kann, wenn man mit eigenen Augen gesehen hat, wie ein Mensch gestorben ist?

Man weiß, dass es nicht der Tod selbst ist, der einem so zu schaffen macht. Es ist das Sterben, das Gehenlassen, das Verlassenwerden. Dabei wird einem klar, wie gut man es hat, wenn die eigenen Kinder und man selbst gesund sind. Was ist mit Menschen, die verhaftet werden, weil sie ihre an Ebola erkrankten Kinder versteckt haben? Was ist mit Kindern, die im Krieg auf Menschen schießen? Es geht immer viel, viel schlimmer. Den Tod wirklich zu sehen hat mich bescheidener gemacht. Das Wissen, dass jeder Moment der letzte mit meinem Kind sein könnte, macht mich geduldiger, glücklicher. Wenn Sterblichkeit nicht nur ein abstraktes "Irgendwann" ist, sondern ein "Heute" oder ein "Morgen", dann wird das Leben, das uns oft so anstrengend und stressig vorkommt, plötzlich wertvoller und lebenswerter. Das ist das Gute daran. Das ist das, was ich mitnehmen kann.

Aber mitnehmen tue ich auch die Angst. Die Angst, dass schlimme Dinge wirklich passieren. Dass die Welt wirklich fies ist. Dass guten Menschen wirklich furchtbare Dinge widerfahren. Ich habe drei Menschen innerhalb von zwölf Monaten an Krebs sterben sehen und jedesmal dachte ich: Jetzt kann es nicht mehr schlimmer werden. Und jedesmal wurde es schlimmer. Am Ende wird nicht immer alles gut. Schlimme Dinge passieren auch dreimal. Und obwohl ich mir vorher nie Gedanken gemacht habe, wenn mein Mann und meine Tochter zu spät gekommen sind... Jetzt habe ich Angst. Angst, dass sie einen Unfall hatten. Dass sie tot sind. Denn ich weiß ja, dass diese Dinge wirklich passieren. Dass die schlimmsten Ängste wahr werden; und selbst wenn man kämpft und hofft und tapfer ist, heißt es nicht, dass am Ende alles gut wird. Dadurch, dass ich Sterben wirklich erlebt habe, habe ich weniger Angst im Leben. Und gleichzeitig habe ich mehr Angst. Vor den wirklich schlimmen Dingen.

Die Kinder in meiner Familie gehen noch offen mit dem Thema Tod um. Meine Tochter hat mich nach der Urnenbeisetzung ihres Onkels gefragt, ob seine Augen auch verbrannt wurden. Und wann er genau gestorben ist. Und wie das war. Und woran wir gemerkt haben, dass er tot war. Ob man sieht, dass das Herz aufhört zu schlagen. Und ob wir dann geweint haben und warum. Ich musste erstmal schlucken. Und dann habe ich ihr geantwortet. Auf alle ihre Fragen. Und ich habe gemerkt, wie sehr es uns beiden gut getan hat. Sie hat nicht betroffen zu Boden geguckt und "Herzliches Beileid" gemurmelt. Sie hat geweint. Und mir Fragen gestellt, die ich mir eigentlich auch immer gestellt habe... die ich als Erwachsene aber nie ausgesprochen habe. "Hattest Du Angst davor, dass er stirbt?" "Fandest Du es eklig, wie er hinterher aussah?" "Was ist dann mit ihm passiert?“ Es hat mir gut getan, so offen und so ehrlich darüber zu reden. Ohne mein Gegenüber zu verstören und das Gefühl zu haben, dass es am liebsten wegrennen würde.

Ich werde irgendwann sterben. Und vielleicht viel zu früh. Vielleicht werde ich vorher leiden müssen, vielleicht geht es aber auch ganz schnell. Vielleicht muss ich mein Kind viel zu früh zurücklassen. Und vielleicht werde ich den Gedanken kaum aushalten können. Aber vielleicht schlafe ich nach einem glücklichen Leben mit 80 auch einfach ein und wache nicht mehr auf. Ich weiß es nicht. Wenn ich Glück habe, ist dann meine Familie bei mir und versteckt sich nicht vor meinem Sterben, weil sie den Gedanken an meinen Tod nicht aushält. Denn wenn ich erstmal tot bin, dann merke ich nicht, ob sie an meinem Grab steht. Ich merke aber vorher, ob sie an meinem Bett steht und meine Hand hält. Und es mir damit leichter macht, zu gehen. Egal, ob ich 80 bin oder 38.

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