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Lipödem "Mein Körper war mir lange ein Rätsel"

Lipödem: Fotos von Lia
© Lia Lindmann / Privat
Die Autorin Lia Lindmann suchte die Schuld für ihre dicken Beine lange bei sich. Hier erzählt sie von ihrem schweren Weg zur Diagnose Lipödem – und wie es ihr heute geht.

Als ich 14 war, fingen meine Beine an weich, schwammig und dick zu werden, der Rest des Körpers war schlank. Eine Nachbarin sagte: "Eure Tochter hat aber auch ganz schön dicke Schenkel". Das geht vielen jungen Frauen so. Ich las viele Texte in Mädchenmagazinen, kaufte ein Oberschenkeltrainingsgerät, hatte auf dem Weg zur Schule Gewichtsmanschetten an den Beinen, turnte stundenlang auf einer Matratze in meinem Zimmer und teilte meinen Klassenkameradinnen Ernährungsprotokolle aus, um herauszufinden, wie Körper und Nahrung miteinander in Zusammenhang stehen. Ich experimentierte mit Vollkorngerichten, brachte mir das Kochen und Backen bei, ersetzte Zucker und rutschte schließlich in eine hartnäckige Magersucht, die gelegentlich von heftigen Essanfällen unterbrochen war.

Meine Seele litt schon früh

Ob ich damals schon Schmerzen hatte, kann ich heute nicht mehr sagen. Seelische Schmerzen hatte ich sicherlich. Jeder Hosenkauf endete in Tränen, herausgelassen oder heruntergeschluckt als riesiger Knoten im Hals. Jedes Foto, dass ich von mir sah: Das bin ich? Mein Bikini hatte ein Röckchenteil, das versuchte, ein bisschen Bein zu verstecken, ich ruderte, sprang Trampolin, spielte Fußball. Und doch war ich immer die mit den dicken Oberschenkeln. Ich begann meinen Körper zu verdrängen und zu verstecken, wollte vergessen, dass ich ihn habe. Wenn ich mich auszog, weinte ich oder zerkratzte meine Beine hasserfüllt.

Meine Waage wurde das Messinstrument für meinen Selbstwert.

Ich konzentrierte mich auf andere Dinge im Leben: Studium, Gesang, Freundschaften, Fürsorge für andere, Leistung und Ehrenamt. Und immer wieder auch neue Formen von Diät und gesunder Ernährung, Fitness und Beratung. Meine Waage wurde das Messinstrument für meinen Selbstwert. Schleichend kamen Schmerzen im Fettgewebe hinzu. Nachts waren meine Beine geschwollen, juckten und irgendwann schienen sie platzen zu wollen. Gehen und Stehen war unangenehm. Ich wollte immer nur sitzen, obwohl auch das nicht angenehm war.

Ich begann im Liegen zu arbeiten, da waren die Schmerzen am geringsten. Dass andere sagten: "Ich stehe auch mal gerne", war mir unbegreiflich. Und wieso wollten immer alle Spazierengehen? Ich tat das auch. Weil man es eben so macht. Aber genießen konnte ich es nicht. Ich dachte, dieses Gefühl sei der "innere Schweinehund" von dem immer alle sprechen und dass der bei mir wohl besonders groß sei. Überhaupt musste an mir ziemlich viel falsch sein, schloss ich. Schließlich machen andere scheinbar viel mehr Sport und ernähren sich viel gesünder: sonst wären sie ja nicht so schlank und ich so "dick" und "faul" und voller Schmerzen.

Ärzte schoben alles auf meine Ernährung

Ich besuchte in dieser Zeit viele Ärzte. Wegen Schlafstörungen, Hautproblemen, orthopädischen Problemen. Keiner sagte mir: Sie haben ein Lipödem. Oder: Ich überweise Sie an einen Phlebologen. Nach und nach traute ich mich, mein Gewicht anzusprechen: "Essen Sie weniger. Schneiden Sie das Brot ein paar Mal durch, dann sieht es nach mehr aus. Auf Wiedersehen." Mittlerweile weiß ich: Frauen mit Gewichtsproblemen erhalten selten brauchbare Hilfe bei Ärzten. "Nehmen Sie ab!" ist häufig der einzige "Rat" und die einzige "Behandlung", die sie bekommen. Dabei steckt hinter ungewolltem Übergewicht oft eine Erkrankung des Stoffwechsels, der Schilddrüse, des Fettgewebes oder der Psyche.

So auch bei mir. Meine Erkrankung heißt Lipödem. Und Hochrechnungen zufolge ist jede zehnte Frau betroffen. Auch, wenn sie es nicht weiß. Die Fettstammzellen produzieren vermehrt vergrößerte Zellen. Es liegen Entzündungen in den Zellen vor, die Schmerzen hervorrufen. Die Blut- und Lymphgefäße sind brüchig. Es lagert sich Wasser ein. Ganz leicht entstehen blaue Flecken.

Lipödem? Ich? Nein? Das kann gar nicht sein.

Bin ich selbst schuld?

Doch in unserer Gesellschaft wird Körperfett mit Schuld gleichgesetzt. So war es auch bei mir. Und mit meinem inneren Stress stieg auch mein Gewicht stetig an: Von 65 auf 75 Kilogramm in meiner späten Pubertät und den frühen Zwanzigern trotz Inlineskating und Unisport. Auf 85 Kilogramm nach einem einsamen Auslandsaufenthalt, auf 95 Kilogramm in einer äußerst anstrengenden Weiterbildungsphase in meinen späten 20ern. Im Schwimmbad fragte mich eine Freundin: "Kann es sein, dass du ein Lipödem hast?" "Lipödem? Ich? Nein? Das kann gar nicht sein. Ich bin nicht krank. Ich bin nur selbst Schuld, Schuld, Schuld", so dachte ich. Es hatte ja auch nie ein Arzt etwas in dieser Richtung gesagt.

Und: Das Gros der Ärzte kennt sich auch noch zu wenig aus oder "glaubt nicht an die Erkrankung" – wieder ein Problem von Vorurteilen gegenüber Fett. Leichte Frauen mit schwammigem, schmerzendem Bein hören oft: So schlimm ist es doch nicht. Normalgewichtigen wird zu mehr Sport geraten, Übergewichtige sollen abnehmen. Damit – so glauben viele Ärzte – sei das Thema erledigt. Betroffene müssen also tatsächlich eine Information oder ein Buch über die Erkrankung mit zu ihren Ärzten nehmen, damit sie die notwendige Hilfe bekommen können.

Als ich mit 29 die Diagnose bekam, brach für mich eine Welt zusammen. Ich dachte, es könnte nur noch bergab gehen. Die "Schuld"-Rufe in meinem Kopf wurden schreiend laut. Enge Kompressionsstrumpfhosen, die anfangs Beschwerden bereiteten, Bilder auf Google, die zeigten, dass meine Angst, eines Tages völlig unbeweglich und bettlägerig zu sein, nun auch meine Prognose sein sollte. Meine Gedanken rasten. Ich wollte mich am liebsten verstecken und nie wieder das Haus verlassen. Gleichzeitig wollte ich kämpfen.

Hilfe durch Kompression

Die Diagnose und die Kompression haben für mich alles verändert. Nach und nach wurde Laufen leichter. Schritt für Schritt verlor ich Wasser aus den Beinen, schließlich auch Fett. Ärzte konnten mir in kurzen Besuchen nicht die ganze Erkrankung erklären. Die Krankenkasse zeichnete sich in erster Linie durch Ablehnungen aus. Operationen werden erst übernommen, wenn das schwerste Stadium erreicht ist, das Körpergewicht aber dennoch nicht zu hoch. Und das ist fast unmöglich zu erreichen. Meine Krankenkasse fand leider auch, dass ein Paar Kompressionsstrumpfhosen pro Jahr genügen sollten. Doch: Wir Betroffenen tragen diese täglich. Sie verlieren nach einigen Monaten ihre Wirkung. Dieser Kampf mit den Krankenkassen ist für so viele Patienten unglaublich kräftezehrend.

Wie viele andere vor mir begann ich selbst zu recherchieren, was genau in meinem Körper vorgeht und was wir bis jetzt über Besserungsmöglichkeiten wissen. Welche Rolle spielen Kälte und Wärme? Welche Ernährungsform kann helfen? Was sollte ich vermeiden? Kann Entspannung helfen? Wie konnte ich mein Selbstbewusstsein wieder aufbauen? Lernen, über meine Erkrankung zu sprechen, mich Freundinnen gegenüber zu öffnen, Partnerschaft und Sexualität wieder genießen? Welche Rolle spielen Psychotherapie und Schmerzmedizin? Und gibt es Nahrungsergänzungsmittel, die etwas ausgleichen können, was im Körper offensichtlich fehlt?

Gleichzeitig lernte ich, endlich nett und gut zu mir selbst zu sein und loszulassen, was mich herunterzog. Über etwa 15 Monate verlor ich jede Woche ein halbes Kilogramm Gewicht. Von 95 auf 56 Kilogramm. An den Beinen von Kleidergröße 50 (kurz) auf 34/36. Ich habe immer noch ein Lipödem. Es ist nicht weg. Aber ich habe viel über mich und die Erkrankung gelernt, kann sie besser managen und einschätzen.

Informiert euch!

Krankheitssymptome sehe ich nun als Signale. Dieser Text ist kein "Jede-kann-es-schaffen"-Text. Die Erkrankung ist wirklich komplex. Aber: Er ist ein Plädoyer dafür, dass jede Betroffene wissen sollte, dass sie die Erkrankung hat, dass sie ausreichende Versorgung benötigt und umfassende, leicht erklärte Informationen über Behandlungsmöglichkeiten und Selbsthilfe. In digitalen Communitys kämpfen wir für bedarfsgerechte Versorgung, gegen Diskriminierung und für Aufklärung und Zusammenhalt. Auch einige Vereine und eine Vielzahl an Selbsthilfegruppen setzen sich für Betroffene ein. Wenn du glaubst, dass auch du betroffen sein könntest, dann melde dich bei uns.

Die Verfasserin dieses Textes ist Lia Lindmann, Autorin des Ratgebers "Leichter leben mit Lipödem", der 2020 bei humboldt erschienen ist. Über die Facebook-Seite "Leichter leben mit Lipödem" unterstützt sie Betroffene und organisiert – gemeinsam mit anderen Aktivistinnen – digitale Aufklärungsaktionen. Lia Lindmann bietet auch individuelle Beratung für Betroffene an. Mehr Infos unter: leichter-leben-mit-lipoedem.jimdosite.com.

Lia Lindmann

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