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Spätes Coming-out "Ich fühlte mich wie ein Teenager beim ersten Date"

Zwei Frauen mit Happy End (Symbolfoto)
Zwei Frauen mit Happy End (Symbolfoto)
© Scott Griessel / Adobe Stock
Klara*, 49, und Judith*, 52, sind beide schon viele Jahre mit Männern verheiratet, als sie ihre Liebe zueinander entdecken.

November 2020. Die Corona-Lage ist ernst und lässt die Leute allmählich mürbe werden. Ich bin Geschäftsführerin eines kleinen Unternehmens in einer Branche, die von Männern dominiert wird. Wir benötigen Grundstoffe für unsere Produkte, die ich bei der Firma, in der Judith arbeitet, einkaufe. Seit mindestens zehn Jahren haben wir Kontakt, aber nur geschäftlich und ausschließlich telefonisch oder per Mail, unsere Firmen liegen etwa 600 Kilometer voneinander entfernt. Es schien wohl ein eher unangenehmer Kundenkontakt für Judith vorausgegangen zu sein, als sie mir schrieb, dass sie sich freut, dass es auch Kundinnen wie mich gibt, die ihre Bestellungen eigenverantwortlich im Blick haben.

Es ist das erste Mal in unserem langjährigen geschäftlichen Kontakt, dass ich ihre Mail mehrmals lese. Die nette Geste tut gut, und ich schreibe ihr zurück, dass ich gern mit ihr arbeite, weil ich ihre Zuverlässigkeit schätze. Auch ich beende den Bürotag mit positiven Gedanken und die Mail geht mir nicht mehr aus dem Kopf.

Am letzten Arbeitstag vor Weihnachten bekam ich dann eine handgeschriebene Weihnachtskarte von Judith. Sofort schoss mir wieder der Mailverkehr in den Kopf und eine angenehme Wärme machte sich in mir breit. Ich beschloss, Judith anzurufen, um mich zu bedanken und wir tauschten private Nummern aus.

Weihnachten und Silvester schrieben wir sporadisch WhatsApp-Nachrichten und auch im neuen Jahr war Judith weiter in meinem Kopf präsent. Irgendwie fühlte ich mich ihr nahe, vertraut, zugeneigt. Schließlich träumte ich von ihr. Ich schrieb ihr davon, ohne Details zu nennen. "Ich hoffe, wir haben etwas Schönes unternommen", kam kurze Zeit später von ihr als Antwort. Ich schrieb zurück: "Es war äußerst emotional".

Wir stellten fest, dass wir beide langjährig verheiratet sind

Nachdem ich drei Tage von ihr nichts gehört hatte, schrieb ich ihr: "Sollte ich Ihnen am Freitag mit meinen Worten zu nahegekommen sein, täte mir das unendlich leid. Das war nicht meine Absicht. LG". Von da an schrieben wir uns regelmäßig und stellten fest, dass wir beide langjährig verheiratet sind. Wir tauschten uns über berufliche Themen, Schwächen und Stärken, Musik und Literatur aus und das brachte uns Stück für Stück näher. Irgendwann nutzten wir jede freie Minute, um uns schreiben und stellten viele Gemeinsamkeiten fest – selbst unsere Ehemänner ähnelten einander. Unser WhatsApp-Austausch wurde immer privater und vertrauter. Es fehlte uns etwas, wenn wir uns einen Tag mal nicht schrieben.

Ich erfuhr, dass ich für Judith insgeheim schon lange Zeit "ihre Klara" gewesen bin, was mich überraschte und erfreute. Ich merkte, dass wir etwas füreinander empfanden. Wir vergaßen die Uhrzeit und schrieben uns immer wieder bis tief in die Nacht.

Was wäre, wenn ...?

Anfang Februar nahm ich allen Mut zusammen und schrieb Judith, was ich von uns geträumt hatte, und dass ich das nochmal geträumt habe. Sie fragte mich, ob ich mir das wünschen würde, und schrieb, dass auch sie schon über das "Was wäre, wenn" nachgedacht hatte. Bis vor Kurzem hätte sie geschworen, dass sie nie eine Frau küssen könne – jetzt sei sie sich nicht mehr sicher. Mir stockte der Atem. Diese Aussage berührte mich so tief und traf sich genau mit meinen Gefühlen für sie. Wir schämten uns nicht für unsere Offenbarungen und versuchten zu ergründen, warum es so ist, wie es ist. Angst vor möglicherweise Neuem machte sich in uns breit, trotzdem ließen wir unseren Gefühlen immer mehr Raum.

Wir empfanden gleichzeitig Sehnsucht und Ohnmacht

Wir waren räumlich so weit voneinander entfernt und fühlten uns doch so nah. Es stand für uns fest, dass wir uns unbedingt treffen müssen und auch spüren wollen. Es wurde uns immer klarer, dass ein gemeinsamer Weg, wenn es den überhaupt geben sollte, kein verletzungsfreier sein würde, schließlich waren wir beide verheiratet, hatten Freunde und Familie. Kopf und Herz begannen einen Kampf, den der Kopf glücklicherweise verlor.

Noch trauten wir uns nicht, die magischen drei Worte auszuprechen

Im Februar tauschten wir Fotos aus und stellten fest, dass wir uns auch optisch sehr mochten. Wir scheuten uns aber noch, von Liebe zu sprechen. Herzen und Küsschen ergänzten dennoch fortan unsere Nachrichten. Wellen des Glücksgefühls geprägt von Wärme und Liebe durchzogen unsere Körper, wenn wir aneinander dachten. Wenn wir telefonierten, fühlte ich mich wie ein Teenager beim ersten Date, dem die Stimme versagte und die Worte ausbleiben. Judith ging es genauso. Wir versprachen einander, uns trotz Corona so bald wie möglich zu treffen und setzten uns eine Frist von zehn Wochen, um uns daran festhalten zu können. Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt könnte man das Gefühl beschreiben.

Tags darauf googelte Judith "Plötzlich Gefühle für eine Frau" und stieß auf einen Artikel bei BRIGITTE.de. Der Artikel handelte von zwei Frauen, die sich ineinander verliebt hatten und beschrieben, wie sich ihr Leben dadurch veränderte. Auch Judith und ich fühlten das so und verbrachten gedanklich unsere erste gemeinsame Nacht. Ich schrieb ihr, wie gern ich ihr sagen würde, dass ich sie liebe. Judith blieb noch vorsichtig und schrieb zurück: "Erst sehen, fühlen, riechen...ich mag Dich auch sehr...".

Das erste Treffen hat unsere Liebe nur bestärkt

Nachdem das Datum für unser erstes Treffen feststand, waren wir wie befreit von einer erdrückenden Last. Wir konnten es kaum erwarten und begannen, die Tage und Stunden zu zählen. Für uns beide stand fest, dass dieser Tag alles verändern wird – er würde uns entweder ganz zueinander oder wieder auseinander bringen. Wir schrieben viel darüber und dabei fielen die magischen drei Worte: "Ich liebe Dich". Der Satz löste in unseren Körpern explosionsartige Wellen aus, ein Gefühl der Wärme, der Geborgenheit, der Lust und des Glücks machte sich breit.

Am 10. März 2021 haben wir uns getroffen und dieses Treffen hat unsere Liebe nur bestärkt. Am 14. März trennte Judith sich von ihrem Mann, ich mich tags darauf von meinem. Mittlerweile sind fast zwei Jahre vergangen und wir bereuen nichts. Wir leben glücklich in einer Kleinstadt im Westen Deutschlands in einer gemeinsamen Wohnung und können uns die Zeit ohneeinander nicht mehr vorstellen. Wir wissen jetzt: Es ist nie zu spät, sein Leben zu ändern.

*Die Namen sind der Redaktion bekannt 

Brigitte

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