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Sicher ist (selbst)sicher: Unsere Angst im Dunkeln

Einsame Straßen, dunkle Hauseingänge, zwielichtige Typen: Jede Frau kennt das Gefühl, sich nie ganz sicher zu fühlen, wenn sie nachts unterwegs ist. Auch Anna Katherina Ibeling spürt diese Angst - und wünscht sich in der Leserkolumne "Stimmen", es wäre anders.
Anna Katherina Ibeling, 28, arbeitet nach einem geisteswissenschaftlichen Studium nun bei einem Medienunternehmen in der Nähe von Bremen. Nebenher liest sie für junge Autoren Korrektur und schreibt auf Derblaueritter die Kolumne Cats Couch.
Anna Katherina Ibeling, 28, arbeitet nach einem geisteswissenschaftlichen Studium nun bei einem Medienunternehmen in der Nähe von Bremen. Nebenher liest sie für junge Autoren Korrektur und schreibt auf Derblaueritter die Kolumne Cats Couch.
© Privat

Es ist wie immer schon nach 23 Uhr, als ich sonntags aus dem Zug steige, um nach einem Wochenende bei meinem Partner und den Katzen wieder zu meinem Arbeitsort zurückzukehren. Das liegt in der Natur der Sache. Würde ich früher fahren, wäre die Zeit in meiner Herzensheimat noch kürzer als sowieso schon. In der Regel reise ich mit leichtem Gepäck - ein kleiner Rollkoffer, eine Handtasche und vielleicht eine Tüte mit Vorräten.

Nachdem ich die Bahnhofshalle verlassen habe, sehe ich noch einige Straßenbahnen und die bunten Lichter der Kioske und Imbissbuden. Das beruhigt mich. Es gibt keine bösen Überraschungen, ich kann genau sehen, wer hinter, neben oder vor mir ist. Ein kurzer Blick auf den S-Bahn-Fahrplan. Verdammt, die Bahn ist gerade weg - die nächste kommt erst in 26 Minuten. Zu lang, um zwischen angetrunkenen Partygängern und anderen Nachtschwärmern an einer Haltestelle herumzulungern, und kalt ist es auch. Bis die Bahn da ist, bin ich zu Fuß längst zu Hause - auch wenn mir beim Gedanken an den gut zehnminütigen Fußmarsch etwas mulmig wird. Es behagt mir nicht, allein durch die Stadt zu laufen, wenn auf den Nebenstraßen kaum jemand anders unterwegs ist.

"Wird schon schiefgehen", beruhige ich mich. Immerhin habe ich mehrere Jahre lang Selbstverteidigungskurse belegt, wobei der letzte leider schon mehr als zehn Jahre her ist. Doch ich kenne die Regeln, wie man möglichst sicher durch dunkle Straßen kommt, zumindest gebe ich mir alle Mühe, mir keine Angst einjagen zu lassen. Das ist gar nicht mal so einfach. In Gedanken gehe ich kurz meine Security-Checkliste durch: Haustürschlüssel und Handy in der Jackentasche? Unübersichtliche und potenziell bedrohliche Punkte auf dem Weg bekannt? Ich bin erleichtert, noch ist alles hell erleuchtet. Nur von den angetrunkenen Männern an einem Kiosk halte ich einen Sicherheitsabstand. Betrunkene können unberechenbar sein, habe ich bei der Selbstverteidigung gelernt.

Eine Ampel, die einfach nicht grün werden will. Ich bin müde, habe Hunger und will endlich wieder ins Warme. Außerdem ist es mir gar nicht recht, dass gegenüber ein Mann steht und zu mir rüberguckt. "Du spinnst", tadele ich mich, als meine pessimistische innere Stimme mir Horrorszenarien einreden will. Die Ampel zeigt Grün, ich fasse meine Handtasche und den Regenschirm fester (vielleicht eignet der sich als Waffe) und straffe die Schultern. Auf der Verkehrsinsel bleibt nur eine Armlänge Abstand, als ich an dem Fremden vorbeigehe. Ich behalte ihn im Auge, solange er in meinem Sichtfeld ist.

Sicher ist (selbst)sicher: Unsere Angst im Dunkeln
© Pavlukovic/Shutterstock

Noch immer folge ich einer Hauptstraße, die allerdings um diese Zeit wenig befahren ist. Links der Fahrradstreifen und die Fahrbahn, rechts eine Mauer und ein Gebüsch. Ich höre meine innere Alarmglocke laut klingeln und finde mich noch im gleichen Moment unendlich albern. Inzwischen sehe ich schon meine Straße. Im Augenwinkel bemerke ich ein Auto, in dem vier Männer sitzen. Als ich an ihnen vorbei bin, klopft einer von ihnen an die Scheibe - mein Blick durchbohrt ihn. Es ist mir egal, ob er absichtlich oder versehentlich an die Scheibe geklopft hat und, wenn absichtlich, ob er nur nach dem Weg fragen will. Er hat mich gerade zu Tode erschreckt. Grummelnd biege ich in meine Straße ein. Ich hasse die vielen versteckten Kellereingänge, die riesigen Mülltonnen, die mir die Sicht versperren. Außerdem ist alles nur spärlich beleuchtet und der Bürgersteig dank parkender Autos derart schmal, dass ich mich zwischen Gebüsch und Fahrzeugen hindurchschlängeln muss. Argwöhnisch beäuge ich den Wohnwagen, in den man so schlecht hineinsehen kann. Schließlich gibt es genug Horrorgeschichten, in denen arglose Frauen in Vans gezerrt werden.

Meine Stresshormone feiern mittlerweile eine wilde Party. Da glimmt wie aus dem Nichts eine Zigarette auf und ein gebrummtes "Guten Abend" schallt aus dem nächsten Kellereingang. Kurz erstarre ich und ärgere mich im nächsten Moment schon - weil es nur ein Nachbar ist, der gerade seine "Gute-Nacht-Kippe" raucht. Ein wenig erleichtert muss ich lachen. "Mann, haben Sie mich erschreckt", sage ich, wünsche noch einen schönen Abend und gehe zu unserem Hauseingang weiter. Dort ist gerade das Licht kaputt. Zumindest reagiert der Knopf nie. So wie jetzt. Seitlich zur Tür stehend ("Dreh einem möglichen Aggressor nie den Rücken zu") schließe ich auf, gehe mit Blick über die Schulter hinein und schließe die Haustür. Nicht, ohne vorher noch einen prüfenden Blick durch die Milchglasscheibe zu werfen.

Sicher ist sicher. Ein Glaubensgrundsatz, der mich - wie viele andere Frauen - begleitet, seit ich das erste Mal allein zur Grundschule gelaufen bin. Vielleicht sogar noch eher, seit ich überhaupt denken kann. Man hat vor allem uns Mädchen jahrelang beigebracht, dass es da draußen eine Menge böser Menschen gibt, die nur darauf warten, sich auf uns zu stürzen - und dabei den Fakt unterschlagen, dass die wenigsten Gewalttaten wirklich aus heiterem Himmel im Club oder auf der Straße stattfinden. In Wahrheit finden die meisten Vergewaltigungen und Bluttaten im Familien- und Bekanntenkreis statt, auch wenn jeder einzelne und tragische Hinterhalt auf offener Straße in Wiederholungsschleife einem sensationslüsternen Fernsehpulikum in den Nachrichten präsentiert wird. Wir haben gelernt, dass es gefährlich ist, allein durchs Dunkle zu laufen und, wenn es denn sein muss, zumindest wachsam oder aber gut "bewaffnet" zu sein; dass jeder fremde Mann, dem wir nachts begegnen, eine potenzielle Gefahrenquelle ist. Kurz: Wir lernen, dass die Welt ein Kampfplatz ist und wir uns per se in der Position des Schwächeren befinden - schlicht, weil wir weiblich geboren wurden. Eine "natürliche" Tatsache also, dass wir Ängstlichkeit zu unserem ständigen Begleiter erklären?

Ist das heute noch sinnvoll? Womöglich macht es mehr Sinn, uns als Frauen und Mädchen zu stärken, als durch Panikmache als ewige Opfer darzustellen. Dazu gehört auch, gute Bedingungen zu schaffen - gut beleuchtete Straßen, gemeinsame Selbstverteidigungsangebote für Männer und Frauen, eine positiver orientierte Sicherheitserziehung und starke weibliche Vorbilder im direkten Umfeld und in den Medien. Als ich meinem Vater letztens von einer Situation erzählte, die ich gefährlich fand, schwieg er einen Moment lang am Telefon, um schließlich zu antworten: "Ich weiß doch, dass du dich wehren kannst." Es brauchte einige Momente, bis ich die Message dahinter verstand. Papa wollte mir sagen: "Ich halte dich für stark genug dafür und traue es dir zu." Vielleicht sollte ich und sollten auch andere Frauen sich solche Worte öfter zu Herzen nehmen, statt den nächsten Kriminellen hinter einer Mülltonne zu vermuten. Stärke schafft Selbstbewusstsein - und Selbstbewusstsein macht uns alle, wenn auch nicht unangreifbar, zumindest zu einem unbequemen Gegner. Ja, richtig gelesen: Gegner, nicht Opfer.

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