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"Ich zog ständig neue Männer an - scheinbar ohne mein Zutun"

Frau blickt auf's Meer
© j.chizhe / Shutterstock
Als Susanne* mit Anfang 40 zum ersten Mal über ihre Sexsucht redete, ging es nicht mehr: Mit ihren Affären hatte sie ihre Ehe, ihre Firma und sich selbst an den Rand des Abgrunds gebracht. In der Leserkolumne "Stimmen" erzählt sie, wie die Diagnose "Sexsucht" und der kalte Entzug ihr halfen - und wie sie heute die Sucht in Schach hält.

Hallo, ich heiße Susanne und ich bin sex- und liebessüchtig. Es war mit Sicherheit eine meiner mutigsten Handlungen, diesen Satz zum ersten Mal vor einer Gruppe anderer sex- und liebessüchtiger Menschen zu sagen. Mein Gott - was hatte ich für eine Angst davor, in dieses erste Meeting der S.L.A.A. (Sex and Love Addicts Anonymous) zu gehen! Was würden das für Leute sein, die ich dort treffe? Doch ich wusste keinen anderen Ausweg mehr. Ich war "ganz unten" angekommen, an dem Punkt, den wir als Kapitulation bezeichnen: Ich musste zugeben, dass ich die Kontrolle über mein Verhalten verloren hatte und nicht wusste, wie ich sie wieder erlangen konnte. Ich hatte im Internet die 40 Fragen von S.L.A.A. zur Selbstdiagnose gelesen und das Ergebnis war so unangenehm wie eindeutig: Das war endlich der Name für meine "Krankheit" - und ich war nicht allein damit.

Ich war damals gerade über 40, verheiratet mit einem netten und erfolgreichen Mann, drei Kinder. Ich führte ein mittelständiges Unternehmen, bei mir Zuhause führte ein Haushälter-Ehepaar das Regiment. Aber was von außen so nach perfekter Welt aussah, war in Wahrheit innen drin faul und morsch. Ich hasste die Sexualität in meiner Ehe, und anstatt meinen Mann damit zu konfrontieren und so etwas ändern zu können, wiederholte ich ein altes Muster, das ich als Jugendliche entwickelt hatte: Ich hatte immer eine feste Beziehung, die ein bis zwei Jahre bestand und für mich eine Art "Zuhause" war, mir Sicherheit und Geborgenheit gab und in der ich Konflikte totschwieg. Diese Jungen/Männer waren allesamt der Typ "netter Junge", der für meine Eltern akzeptabel war. Aber schon kurz nach dem Beginn der Beziehungen suchte ich Kicks, Bestätigungen durch Affären, die ich, je schmerzhafter sie waren, umso intensiver erlebte. Die Seitensprung-Partner waren allesamt Männer, die ich nie mit nach Hause hätte bringen können, wie beispielsweie ein 20 Jahre älterer, verheirateter Mann, der außer mir noch mehrere andere Geliebte hatte. Die Häufigkeit der Seitensprünge steigerte sich immer im Laufe der Beziehungen, bis die Affären nicht mehr zu verheimlichen waren und es zum Bruch mit der Hauptbeziehung kam. Dann suchte ich mir sofort wieder eine neue, feste Beziehung.

Nun, mit über 40, war meine "Hauptbeziehung" mein Mann, mit dem ich viel mehr als die drei Kinder teilte. Meine Affäre war etwas jünger, verheiratet, ebenfalls Kinder - und wieder der Typ Mann, bei dem nicht nur meine Eltern "Finger weg!" geschrien hätten. Selbst mir war klar, dass diese Beziehung mehr als schlecht für mich war, dass es nicht in Ordnung war, wenn wir Sex zu unangebrachten Zeiten und an unangemessenen Orten hatten. Ständig log ich meinen Mann, meine Kinder, meine Freundinnen und Mitarbeiter an, stets war da die Angst vor Entdeckung. Und dennoch konnte ich nicht die Finger von ihm lassen.

Als "Ausweg", um mich nicht abhängig von ihm zu fühlen, flirtete ich ständig mit neuen Männern. Ich missbrauchte meinen Beruf für meine Sucht: In meinem sehr männerdominierten Arbeitsfeld fiel ich als Frau eh schon auf, doch ich setzte dem noch ein I-Tüpfelchen auf - durch enge Kostüme mit hohen Pumps, meine Röcke waren kurz und die Bluse häufig einen Knopf zu weit geöffnet. So brachte ich mich selbst in immer absurdere Situationen: Eines Morgens rief meine Sekretärin auf dem Handy an, um mich zu warnen, dass einer unserer Kunden vor der Tür meines Büros säße und mich unbedingt sehen wolle. Ein anderes Mal stand nach Büroschluss, als ich allein im Büro war, ein anderer geschäftlicher Kontakt mit eindeutigen Absichten auf der Matte. Diese Ereignisse häuften sich immer rascher, und ich war unfähig zu sehen, dass ich sie mir alle selbst eingebrockt hatte.

Wie schon als Teenie war auch jetzt mein heimliches Leben nach gut einem Jahr nicht mehr zu verbergen, und es kam zu einem sehr schmerzvollem Bruch mit meinem Mann. Er war meine Jugendliebe und emotional war ich ihm nach wie vor sehr verbunden. Doch die einzige Art, mit der ich meine Trauer zu betäuben wusste, war die, mir immer weiter Bestätigung durch Männer zu suchen. Mit Frust oder Schmerz gesund umzugehen, das hatte ich nie gelernt. Ich hätte mich genauso gut betrinken, zukiffen, voll fressen, wild shoppen gehen oder irgendetwas anderes exzessiv machen können - aber das ist eben nicht mein Sucht-Weg.

Dadurch, dass ich ständig mit irgendwelchen Männern beschäftigt war, verlor ich meine Firma und die Kinder völlig aus den Augen. Mit der Firma ging es steil bergab, die Kinder litten sichtlich. Es war ein furchtbarer Kreislauf, an dessen Ende ich mir eine Wohnung suchte und beschloss, die Kinder bei ihrem Vater zu lassen.

Drei Zufälle, die ich heute als den Willen meiner "Höheren Macht" bezeichne, gaben meiner Geschichte eine andere Wendung als von mir angestoßen: Der Vermieter sagte mir buchstäblich im letzten Moment ab, mein Liebhaber fuhr für 14 Tage ins Ausland und mein Mann bat mich, mit ihm zu einer Eheberatung zu gehen. Ich willigte ein, weil ich keine Alternative sah und versprach dort, auf jegliche zweideutige Männerkontakte zu verzichten.

Die folgenden Tage, Wochen und Monate waren ein kalter Entzug für mich, einschließlich Rückfälle: Durch mein von Kindheit an erlerntes und daher tief verwurzeltes Verhalten, Männern gefallen zu wollen, zog ich scheinbar "ohne mein Zutun" ständig neue Männer an - und wenn mir wieder einer den Hof machte, konnte ich in einem kurzen Rausch alle Probleme vergessen... Bis der Rausch vorbei war und der Kater kam! So fing beispielsweise mein Mann, da extrem misstrauisch geworden, in dieser Zeit eine eindeutig zweideutige Email ab, und ich war erneut ertappt und in Erklärungsnot.

Ich fing an, alle möglichen Ratgeber zu lesen, Bücher von Frauen mit Titeln wie "Die Kirschen in Nachbars Garten - von den Ursachen fürs Fremdgehen" und stieß so irgendwann auf S.L.A.A.

Mein "erstes Mal" bei S.L.A.A. ist nun über zehn Jahre her, und mein Leben hat sich seitdem auf allen Ebenen verändert - und ich bin unglaublich dankbar dafür. Der Weg war hart und schmerzvoll, aber er war jeden einzelnen Schritt wert. Was mir unglaublich geholfen hat, war das Motto, das den meisten Selbsthilfegruppen gemeinsam ist: NUR FÜR HEUTE! Nur für heute verzichte ich auf mein süchtiges Verhalten - 24 Stunden sind eindeutig überschaubarer als "für immer". Genauso wichtig war für mich zu akzeptieren, dass es eine "Höhere Macht" (HM) gibt, die jeder für sich so definieren kann, wie er oder sie es will. Für mich ist sie heute Gott. Mein Leben ist viel leichter geworden, seit ich mich nicht mehr für alles allein zuständig fühlen muss und, wenn ich mal nicht mehr weiter weiß, meine HM und/oder andere Menschen fragen kann.

Ich hatte, nachdem ich durch S.L.A.A. "nüchtern" geworden war (das heißt, dass ich wieder klar denken konnte), jahrelang eine wunderbare Therapeutin als Begleiterin. Ich bin ihr sehr dankbar, wie auch meiner Krankenkasse, die mir die wöchentlichen Termine über Jahre genehmigt hat.

Ich habe heute zu meinem Mann eine sehr liebevolle und erfüllende Beziehung. Eine neue Ehrlichkeit herrscht zwischen uns, wir haben gemeinsam viele Abenteuer erlebt und tun dies weiterhin. Zur Zeit leben wir einige Monate im Ausland. Ich gehe hier, wie auch Zuhause, regelmäßig in S.L.A.A.-Meetings und besuche mit meinem Mann die Paare-Meetings von RCA, Recovering Couples Anonymous. Themen wie Finanzen, Sexualität, Pünktlichkeit, die früher "Sprengstoff" waren und sichere Auslöser für dramatische Szenen und Streit, können wir heute friedlich lösen. Meine mittlerweile erwachsenen Kinder freuen sich, dass ihre Eltern liebevoll miteinander umgehen und auch, dass wir heute für sie da sind, wenn sie uns mal brauchen. Sie lassen uns viel an ihrem Leben teilhaben. Meine Arbeit ist heute eine ganz andere, ich arbeite mehr mit Frauen als Männern. Sie ist sinnstiftend und macht mir sehr viel Freude, meine KollegInnen sind allesamt liebe Menschen, die ich gerne um mich habe. Was will ich mehr?

Und so schließe ich mit einem "Gute 24 Stunden".

*Pseudonym

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