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Mein Körper und ich Nila, 88, sagt: "Ich liebe meinen Körper immer noch"

Nila E. Sebastian hat eine positive Einstellung zu ihrem Körper - bis ins hohe Alter
Nila E. Sebastian hat eine positive Einstellung zu ihrem Körper - bis ins hohe Alter
© privat
Nila E. Sebastian hat eine Ode an den Körper verfasst, der sie seit 88 Jahren beheimatet. Sie sagt: "Mein Körper ist nicht perfekt, aber ich fühle mich noch immer wohl in ihm."

Jetzt ist mein Körper alt. Fast unversehens. 2019 wurden eine Wirbelkanalstenose und Wirbelbrüche festgestellt, doch heute steige ich wieder fast jeden Tag die 96 Stufen zu unserer Wohnung hinauf. Ich muss akzeptieren, dass manches mühsamer geworden ist und ich manchmal einen Stock brauche. Und doch bin ich noch beweglich. Bekomme immer noch Komplimente. Oft von jungen Männern. Ich habe mich nie unsichtbar gefühlt, habe nie mit meinem Alter kokettiert, bitte aber nun in U-Bahn oder Bus um einen Platz. 

Die weißen Haare stehen mir. Mein Liebster berührt meinen Körper immer noch gerne, lustvoll und liebevoll. Und auch ich liebe meinen Körper immer noch.

Auf die Welt kommen

An einem kalten Freitagabend im Februar 1936 wurde ich unsanft mit einer Zange in die Welt gezogen. Ein MädchenDer Arzt fasst mich an den Füßen, schlägt leicht auf den kleinen Po. Ein Schrei, dann ringe ich nach Luft. Die Mutter auf dem Küchentisch wird mit leichten Schlägen auf die Wangen aus der Narkose geholt. Das erste Bad steht schon bereit. Die üblichen Verrichtungen der Hebamme.

Angezogen und gewindelt liege ich im Weidenkorb, nuckle am Däumchen, werde ins Esszimmer geschoben, wo der Kanonenofen Wärme ausstrahlt, und werde allein gelassen. 

Bis die alte Nachbarin erzählt, dass sie mich seit Wochen nachts weinen hört. Damals galt: nie ein Kind verwöhnen. Schreien stärkt die Lunge.

Kind sein

Eine Kindheit, nicht unbeschwert, streng christlich. Kein Radio, selber singen. Vier Geschwister. Ich wuchs aus den Kleidern meiner Cousine heraus, meine Schwestern trugen sie auf. Im Kindergottesdienst und zu Hause sangen wir "Gott ist die Liebe". Liebe und Hiebe, mehr Hiebe als Liebe?

Geborgenheit war fast nur an Weihnachten, Ostern und Geburtstagen zu spüren. Ohrfeigen und Schläge schon bei kleinen Vergehen. 

Im Sandkasten unterm Küchenfenster kreischte die Schwester, wenn ich ihr die Schaufel nicht gab. Prompt kam Mutti und versohlte mir den Hintern. Wieder rettete mich die alte Nachbarin.

Im ersten Schuljahr schrieb ich ungelenk auf die Schiefertafel. Bekam Schläge mit dem Schieferkastendeckel auf die rechte Hand. Bis die Lehrerin Einsicht hatte: Das Mädchen ist klug, hat aber eine schreckliche Handschrift. Ich fühlte mich ungeschickt und steif, auch im Turnunterricht. Noch heute verwechsle ich rechts und links.

Es fühlte sich gut an, wenn meine Schwester und ich uns im Bett kitzelten, jemand meine Wangen oder den Rücken streichelte. Zwischen den Beinen fühlte es sich noch anders an. 

Von Mutti gab es nur einen Gute-Nacht-Kuss. Ich überstand eine Tuberkuloseinfektion, und wenn ich eine Krankheit ausschwitzen musste, wischte Mutti mir die nasse Stirn ab und erzählte Geschichten.

Neugierig betrachtete ich den Körper des kleinen Bruders und verglich. Im April 1945 nach den Nächten auf der Matratze des kalten Kellerbodens war jeden Morgen das Bett nass und ich schämte mich. Wie lange es dauerte, bis endlich das Bett trocken blieb, weiß ich nicht mehr. Erkältungen, Fieber, vereiterte Mandeln, Kopfweh, Sonnenbrand, beißende Kälte, blaue Flecken, aufgeschlagene Knie, Kratzer, Schnittwunden, all das bereitete mir Unbehagen. Doch es ging vorbei.

Ein junges Mädchen

1947 wuchsen unter den Brustwarzen kleine Erhebungen. Verschwanden wieder. Die Hungerzeit zwischen 1945 und 1949, sich nur ab und zu satt essen können.

1949 war die Kindheit endgültig zu Ende. Wir waren von einer Stadt in Thüringen auf ein fränkisches Dorf gezogen und auf einem Bauernhof untergekommen, um dem Hunger zu entfliehen: Jeden Morgen vor Schulbeginn Kühe melken, mittags Mist auf den Wiesen verteilen, bei der Feldbestellung und der Ernte helfen. Mein schmächtiger Körper hielt bei den meisten Arbeiten auf dem Bauernhof mit den Erwachsenen Schritt: bücken, Kannen und Körbe schleppen.

Es dauerte Jahre, bis ich zur Frau wurde. Doch warum musste das alle vier Wochen so wehtun? Das viele Blut und die Stoffbinden auf der Leine, die die Männer zu spöttischen Bemerkungen verleiteten.

1959 machte ich eine landwirtschaftliche Lehre. An der Volkshochschule machte ich jede Woche Volkstanz, obwohl für meine Eltern Tanzen Sünde war. Aber nur Fliegen ist schöner als Tanzen. Als Schwesternhelferin in einem Krankenhaus ohne Aufzug holte mich die Schlepperei dann wieder ein.

Frau und Mutter

Dann kam Horst, der Mann, der mich heiraten wollte. Ich wurde schwanger und mein Körper veränderte sich. Die Brüste schmerzten und wuchsen. Aus ihnen spritzte Milch. Der Schnitt, die Naht. Schmerzen, bis alles verheilt war.

Umzug, Schwangerschaft, 1966 ein zweites Kind. Das Steißbein schmerzte beim Sitzen. Ausgerenkt vom Hinterkopf des Kleinen. Kreuzschmerzen, Ischias. Und trotzdem fühlte ich immer wieder Ekstase.

Zur Zeit der Mondlandung 1969 wurde mir der Boden entzogen: Horst wurde verurteilt, floh vor dem Gefängnis. Kam nie zurück. Der Dreijährige lag von einem Auto angefahren im Krankenhaus. Ich magerte ab, die Nerven blank. Trotzdem arbeitete ich weiter in der Mantelfabrik.

Doch ich erholte mich. Fand Halt in einer Elterngruppe. Machte eine weitere Ausbildung und arbeitete im Büro.

Mein schöner Körper. Jahre später eine Abtreibung. Dann die Sterilisation. Der Arzt machte einen Bauchschnitt, mir blieb die verunstaltende Narbe. Keine Hormonpillen mehr. Ohne Angst die sexuellen Bedürfnisse erfüllen können. Die Zahl der Lover ist zweistellig.

1993 Versuch mit der Primärtherapie. Schreien, den seelischen Schmerz aus Jahrzehnten fühlen.

Der Mann fürs Leben

Die Freuden des Lebens: Nila E. Sebastian mit ihrem Mann Engelbert im Park
Die Freuden des Lebens: Nila E. Sebastian mit ihrem Mann Engelbert im Park
© privat

Dann der Mann fürs Leben. Er hatte einen schönen Körper, war zärtlich, unsere Körper harmonierten. Auch ich war schön, meine Haut geschmeidig. Berührt werden, einfach spüren und den Schauer fühlen. Darauf könnte ich weniger verzichten als auf die körperliche Vereinigung.

Zusammensein, ineinander versinken. Mein Leib schmolz unter seinen Händen. Das ist bis heute so. Engelbert liebt meine üppigen Brüste, trotz der Spuren des Alterns.

Wenn wir im Urlaub auf über 3000 Meter hohe Berge stiegen, wurden mir Höchstleistungen abverlangt. Doch auf dem Gipfel durchströmten mich Freude, Glücksgefühle und Energie. Eine weitere Herausforderung: klettern, am Seil gesichert. Die Höhenangst verschwand fast vollständig.

Wechseljahre

Erste Schweißausbrüche, Vorboten des Klimakteriums: Hurra, endlich Feuerfrau, die große Freiheit! Doch dann: Bluthochdruck, Herzrasen, mit Blaulicht ins Krankenhaus.

Mein Körper liebte mich nicht mehr. Ich zürnte ihm. Schlaflosigkeit, Wesensveränderungen. Ich schleppte mich durch den Tag, versuchte nachts vergebens, Ruhe zu finden. Hormone. Mein Körper ging auseinander und die Waage zeigte immer mehr Kilos.

Die Blutwerte dann wieder einwandfrei, als der Herzschlag nicht mehr mit Betablockern gebremst wird. Doch mein Herz macht sich seit der Diphtherie 1950 immer wieder bemerkbar. Damals gab der Körper fast auf. Mein Vater holte mich nach Hause, als er hörte, dass ich krank war. Es wäre fast zu spät gewesen.

Dankbarkeit: Den Körper annehmen

Mich nackt zu zeigen, fiel mir lange schwer. Meinen Körper richtig anzunehmen, lernte ich in Tantra-Workshops. Dort legte ich im Kreis von drei oder vier Umsitzenden die Kleidung ab. Nackt in der Mitte erzählte ich, was mir alles an meinem Körper nicht gefiel. Danach sagte jede:r, was sie oder er an mir schön fand. Eine Wunschberührung. Das tat gut. Der seelische Schmerz löste sich meist auf. Später ließ ich mich im ZDF bei Ann-Marlene Hennings "Make Love“ nackt fotografieren.

Auch Feldenkrais tat mir gut. Bewusst bewegen. Eins sein mit dem Körper. Früher waren die Knie oft aufgeschlagen, zweimal der Ellenbogen gebrochen, Zähne gingen kaputt. Jetzt sind mein Körper und ich im Einklang. Wenn ich falle, lässt er mich nicht in Stich. Meine Augen sind immer noch strahlend blau und ich bekomme Komplimente.

Mein Körper möchte, dass ich ihn gut behandle, ehre und liebe. Seiner bewusst bin. Wenn mein Fühlen blockiert ist, bringt mich Body-Scan, eine Art autogenes Training, wieder in meinen Körper. 

Morgens im Bett gehe ich oft von der linken Zehe aus durch den ganzen steifen Körper. Inzwischen kann ich auch mit dem seelischen Schmerz umgehen.

Wenn ich irgendwann für immer einschlafe, das Herz stehen bleibt und das Bewusstsein schwindet – wird mein Körper dann verschlissen sein wie ein oft gewaschenes Hemd oder werde ich ihn unversehrt der Erde anvertrauen können?

Die Autorin: Nila Sebastian, 88, ist zum zweiten Mal verheiratet, hat zwei Söhne und zwei Enkel. Bis 1999 arbeitete sie an der TU Berlin im Büro des FB Erziehungswissenschaften. Seit den Achtzigern besucht sie Malkurse und stellt ihre Bilder allein und in Gruppen aus. 2015 hat sie ihre Autobiografie "Wege und Umwege" veröffentlicht, die bei biografienforum.de kostenlos heruntergeladen werden kann. Fotos und Texte von ihr sind auch auf der Website der Fotografin Mirja Maria Thiel unter "All This Love" zu finden (mirjamariathiel.com).

Brigitte

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