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"Ich bin immer noch schüchtern - aber mit Erfolg"

Telefonieren, Fremde ansprechen, in großer Runde ihre Meinung sagen: Für Melina Royer war das stets ein Albtraum. Bis sie sich vornahm, ihre Schüchternheit loszuwerden. Und sich selbst Mutproben stellte.

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Als Kind war ich ein verschrecktes, kleines Püppchen. Ein fremder Mensch brauchte mich nur anzusprechen und er erhielt von mir entweder einen stumm fragenden Blick oder ich war gleich so verunsichert, dass ich geheult habe.

Das wurde in der Schule natürlich nicht besser. Mit 17 blieb ich an manchen Tagen lieber gleich zuhause, nur auf den Verdacht hin, dass mein Mathelehrer mich bloßstellen könnte. Ach ja, und mein Lieblingssatz aus 13 Jahren Schulzeit lautet: "Melina muss sich stärker am Unterricht beteiligen."

Mein Alltag sah bis vor einiger Zeit ungefähr so aus: Wenn ich zufällig alte Schulkollegen irgendwo traf, tat ich lieber so, als hätte ich sie nicht erkannt. Zu groß war die Angst, mich lächerlich zu machen und nichts zu erzählen zu haben.

Telefonieren fand ich auch total furchtbar. Nervosität und Herzrasen waren keine Seltenheit, wenn ich beim Arzt oder Friseur anrufen musste.

Und in einem Bekleidungsgeschäft schlich ich lieber zehn Minuten lang verstohlen durch die Gänge, statt einfach eine Verkäuferin um Hilfe zu bitten. Schließlich könnte sie jede Sekunde den Mund aufmachen und mich verschlingen!

Ich wollte mutig sein ...

Willkommen in meinem Leben! Im Sich-unsichtbar-machen und Möglichst-kein-Aufsehen-erregen bin ich richtig gut gewesen. So gut, dass es mich immer angeekelt hat. Es ist frustrierend, sich am Ende jeden Tages eingestehen zu müssen, dass man sich mal wieder selbst im Weg gestanden hat. Dafür habe ich mich regelrecht gehasst.

Ich wollte nicht so sein. Ich wollte viel lieber mutig sein: mutig genug, um auf die Leute zuzugehen und sie nach ihrer Geschichte zu fragen. Mutig genug, mich zu einer Gruppe Leute zu stellen, die gerade ein interessantes Thema diskutiert. Für andere war das selbstverständlich, für mich leider nicht.

... aber kann man Mut trainieren?

Versteht mich nicht falsch: Ich empfinde Schüchternheit nicht als Krankheit. Manchmal ist Schüchternheit sogar ein Vorteil. Man wird als tiefgründig, nachdenklich und bescheiden wahrgenommen. Schüchterne Menschen sind immer ein bisschen geheimnisvoll und haben viel zu erzählen, wenn man es schafft, sie in ein Gespräch zu verwickeln.

Trotzdem wehre ich mich dagegen, Schüchternheit als unveränderlichen Teil meines Charakters zu sehen. Schüchternheit ist ein Zustand. Aber mehr auch nicht. Ich kann daran arbeiten, mich diesem Zustand nicht hinzugeben. Es ist meine eigene Entscheidung. Wenn man das erst einmal verstanden hat, hat man schon viel Distanz zum eigentlichen Problem gewonnen.

Diese Überlegung hat mir geholfen, meine Schüchternheit anzugehen und etwas zu ändern. Ich glaube, der Schlüssel ist, sich selbst richtig kennenzulernen. Ich stelle mir immer wieder folgende Fragen: Warum habe ich gerade so viel Angst? Was kann denn höchstens passieren? Ist es wirklich so schlimm oder ist es nur Einbildung? Was kann ich konkret tun, um den Ausgang dieser Situation positiv zu beeinflussen?

So taste ich mich an kritische Situationen heran und gehe meine Optionen durch. Wenn ich besonders große Angst habe, überlege ich mir schon zuhause Fragen, die ich meinem Gegenüber stellen kann. Das gibt mir Sicherheit.

Mein Motto: "Failing forward"

"Failing forward" ist mein Leitprinzip geworden. Für einen schüchternen Menschen ist es anfangs eine brutale Erfahrung, den Sprung ins eiskalte Wasser zu wagen und aus sich herauszugehen. Aber aus vielen kleinen, manchmal unangenehmen Erfahrungen lernt man am meisten.

In einem Anflug ungewohnten Selbstbewusstseins habe ich beispielsweise mal ziemlich ins Klo gegriffen. Das dachte ich zumindest im ersten Moment. Als ich bei einer Bekannten eingeladen war, habe ich eine sehr sarkastische Bemerkung über eine Person gemacht, die dummerweise auch noch anwesend war. Dass ich so etwas kann, war mir völlig neu.

Ich habe mich von der Gruppe mitreißen lassen, sodass ich plötzlich selbst mittendrin war. Und für einen Moment vergaß ich tatsächlich nachzudenken, bevor ich redete. Obwohl ich mir gleich danach wünschte, der Boden solle sich öffnen und mich bitte lebendig verschlingen, war diese Situation ein Schlüsselerlebnis für mich.

Ich habe gemerkt: Ups, ich kann loslassen! Die Stimmung war gut und ich habe (ohne es zu merken) mal kurz die Kontrolle abgegeben. Hinterher sagte die Gastgeberin sogar über mich, dass sie ganz beeindruckt von meiner Offenheit war. Die wünsche sie sich selbst manchmal auch. Bäm!

Ich lasse nicht mehr auf mir herumtrampeln

Inzwischen weiß ich genau: Wenn ich meine Schüchternheit ständig einfach zulasse und von anderen erwarte, mich in diesem Gemütszustand aufzufangen, gebe ich in Wirklichkeit die Kontrolle über mein Leben ab. Selbstbestimmung ist mir wichtig und darum möchte ich niemals wieder in der Situation sein, mein Schicksal von einem Gefühl abhängig zu machen, das mich seit meiner Kindheit kontrolliert hat.

Um immer weiter zu wachsen, dachte ich mir kleine Aufgaben aus, die ich erfüllen musste. Und war es nur, eine einzige Person nach ihrem Namen zu fragen. Das funktionierte. Mit der Zeit wurden aus diesen kleinen Aufgaben immer größere. Wie nach einem Vortrag zum Speaker zu gehen und ihm zu sagen, was mir am besten gefallen hat. Oder mindestens auf drei Leute zuzugehen und ihnen meine Visitenkarte zu überreichen. Seit ich selbstständig bin, ist das umso wichtiger geworden. Wenn ich in dem Job überleben möchte, muss ich mir selbst Kunden suchen und kann nicht darauf hoffen, dass die Leute von allein zu mir kommen.

Oh, und auf einem Gebiet bin ich neuerdings auch sehr selbstbewusst: Wenn mich jemand in einem Geschäft schlecht bedient oder unhöflich behandelt, verlasse ich entweder sofort den Laden oder die Geschäftsleitung bekommt eine "nette" E-Mail. Ich lasse nicht mehr auf mir herumtrampeln. Meine Meinung ist genauso wichtig wie die der anderen.

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