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Wie das Borderline-Syndrom mein Leben verändert hat

Zwei Einstellungen einer Frau mit roten Haaren
© Photographee.eu / Shutterstock
Als Eileen Kiesel den Grund für ihre Ausraster erfuhr, war sie froh: Endlich war Schluss mit dem Versteckspiel. Wie die Diagnose "emotional instabile Persönlichkeitsstörung" ihr Leben verändert hat - und das ihrer Familie.
Eileen Kiesel, 24, lebt mit ihren Mann und ihrer kleinen Tochter in Mansfeld. Sie mag Musik und hat das Schreiben für sich entdeckt. Vor kurzem hat sie ihr erstes Manuskript fertiggestellt.
Eileen Kiesel, 24, lebt mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter in Mansfeld. Sie mag Musik und hat das Schreiben für sich entdeckt. Vor Kurzem hat sie ihr erstes Manuskript fertiggestellt.
© Privat

"Emotional instabile Persönlichkeitsstörung." Diese Worte sind Neuland für mich. Mir gegenüber sitzt meine Therapeutin, die manchmal besser über mich Bescheid weiß als ich selber. "Man nennt es auch Borderline. Vielleicht haben Sie das ja mal gehört?!"

Mir wird flau. Borderline habe ich wirklich mal gehört. Ab und an schaut mein Mann diese Dokumentationen, in denen war das auch mal Thema. Aber ich verbinde damit aufgeschlitzte Arme und in sich gekehrte Menschen. Das bin ich nicht, das habe ich nicht. Sollte ich also wirklich dazu gehören? Auf der Heimfahrt gingen mir immer wieder die Diagnose und mein Verhalten durch den Kopf. Irgendwie war es komisch.

Es war meine fünfte Sitzung und meine Therapeutin war sich fast zu 100 Prozent sicher, dass ich eine Persönlichkeitsstörung habe. Sie gab mir zur Sicherheit ein Buch zum Thema mit, um zu sehen, ob die Diagnose wirklich zu meinen Verhalten passt. Als ich zu Hause ankam, waren meine Eltern schon da, sie saßen am Esstisch. Wir wohnen mit ihnen in einem Art Generationenhaus: Meine Eltern, mein Mann (25), meine kleine Tochter (1) und ich.

Plötzlich wusste ich, ich kann es packen

Natürlich wollten meine Eltern sofort wissen, wie es war. Ich erzählte ihnen einige Details aus dem Gespräch, bis ich zum Wesentlichen kam: "Sie meint, ich habe Borderline mit mittlerer Depression." Auf einmal war es still. Meine Eltern schauten mich komisch an, irgendwie mitleidig.

War das jetzt gut oder schlecht? Schließlich wusste ich mit dieser Diagnose selbst noch nichts anzufangen. "Ok, dann müssen wir uns wohl alle etwas zusammenreißen und dich unterstützen, wo es nur geht", sagte Papa ruhig. Mama lächelte und meinte: "Wir kriegen das schon hin. Nur nicht den Kopf hängen lassen, hmm."

Plötzlich wusste ich, ich kann es packen, wenn ich will, sie würden hinter mir stehen. Ich muss nicht mehr überspielen, was mit mir los war, nicht mehr versuchen, meine Anfälle vor meinen Eltern zu verheimlichen. Was mir lange Zeit perfekt gelungen war - bis vor drei Jahren, bis zu meinem Umzug.

Alles war stressig und ich mit den Nerven runter. Ich packte die letzten Kartons zusammen und trug sie die Treppe runter. Meine Eltern saßen im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Da ging es mit mir durch. Anstatt mir zu helfen, war das Abendprogramm viel interessanter!

Ich warf einen Karton auf den Boden, schmiss mich hin, zog mir an den Haaren, schrie und weinte zugleich und schlug mich selbst. Hätte meine Mutter mich nicht angeschrien, ich solle aufhören, wäre es wohl weiter ausgeartet. Irgendwas stimmte nicht mit mir und das wussten nun auch meine Eltern.

Borderline - eine Belastungsprobe für meine Beziehung

Nach dem Gespräch mit meinen Eltern versuchte ich etwas runterzukommen. Fütterte meine Tochter, legte sie schlafen. Ich wartete auf meinen Mann, der Spätschicht hatte. Wie würde er reagieren? Wir hatten viel durchgemacht und er hatte viel mitbekommen. Meine Anfälle, die sehr hart für ihn waren, die Beleidigungen. Er musste zusehen, wie ich mich verletzte. Wie ich drohte, mir etwas anzutun. Wie ich immer wieder zusammenbrach und minutenlang, wenn nicht über Stunden vor mich hinstarrte.

Aber er blieb. Wir heirateten, bekamen eine kleine Tochter. Ja, wir sind sehr jung aber wir fühlten uns bereit dafür. Wir dachten, die Welt gehöre uns und niemand könne uns trennen. "Niemand" stimmte auch. Aber die Krankheit, "Borderline", wie sie nun hieß, machte unsere Beziehung schwer.

Er begrüßte mich mit einem Kuss und fragte gleich, wie es war. Ich erzählte von der Diagnose. Er sagte erst einmal nichts. Schaute mich an, wie ich vermutlich meine Therapeutin angeschaut hatte. "Und was heißt das jetzt?" Ja, gute Frage. Woher soll ich das wissen?

Bis vor wenigen Stunden dachte ich ja noch, mein Verhalten sei noch normal, zumindest für mich. Vergesslichkeit, Antriebslosigkeit und Stimmungsschwankungen hatten immer schon mein Leben bestimmt. Und auch, dass ich Freundschaften nicht halten konnte, war für mich Alltag. "Wir müssen daran jetzt arbeiten. Sie sagt, es wird schwer und vieles verändern."

Zu dieser Zeit wusste ich nicht, dass das wirklich passieren würde. Dass nicht nur ich darunter leiden würde, dass auch mein Umfeld stark sein müsste. Er gab mir einen Kuss, erklärte mir, dass es nichts ändern wird, weil wir es die letzten vier Jahre auch hinbekommen hätten. Das bewundere ich an ihm: Wo ich aus einer Mücke einen Elefanten mache, bleibt er ruhig und behält den Durchblick.

Ein Wort lässt mich zur Furie werden

Am Sonntag darauf war Familientreffen bei meinen Eltern. Mein Bruder kam, den ich seit Wochen nicht gesehen hatte - und der der Grund war, warum ich mir Hilfe gesucht hatte. Vor dem Anfall, der alles ins Rollen brachte, hatte es schon eine Weile zwischen uns gekriselt.

So ist das mit meinen Ausrastern: Sie schleichen sich ein, tagelang, bis zum Riesenknall. Bis ein Wort mich zur Furie werden lässt, ein Vorwurf, den ich ungerecht finde. Wie an dem Tag vor Wochen, als mein Bruder mir vorhielt, was alles nicht richtig lief, so lange, bis ich erst schrie und dann keine andere Möglichkeit sah, als meinen Kopf gegen die Wand zu knallen. Ich brach zusammen, es war ein Riesenschock für ihn. Mein Mann und meine Mutter redeten auf mich ein, aber ich konnte einfach nicht reagieren.

So ist das immer: Selbst wenn ich etwas sagen möchte, es funktioniert nicht. Diesmal dauerte es drei Stunden, bis ich wieder voll ansprechbar war und meinen Körper, meinen Geist beherrschen konnte. Ich schrieb meinem Bruder eine Entschuldigungsnachricht, schrieb, dass es mir leid tue, dass er mich so sehen musste. "Dir muss nichts unangenehm sein, aber bitte tu mir einen Gefallen. Lass dir helfen", schrieb er zurück.

Meine kleine Tochter soll nichts von meiner Krankheit merken

Also jetzt: Borderline. Mein Bruder, der schon Bescheid weiß, fragt mich, wie es mir gehe und ob alles okay sei. Er sagte, er habe sich im Internet belesen und er verstünde mich jetzt viel besser. Ich war erleichtert: Ich wurde akzeptiert, wie ich bin, musste mich nicht mehr verstecken. Aber konnte ich mich selber so akzeptieren?

Ich schwor mir: Meine kleine Tochter sollte von meiner Krankheit nichts mitbekommen. Ich riss mich in ihrer Gegenwart zusammen und wenn es brenzlig wurde, verließ ich den Raum und schrie kurz in ein Kissen. Falls sie jemals sehen würde, wie ich einen Anfall habe, würde ich mir das nicht verzeihen. Weiß ich doch von meiner Therapeutin, dass jede Situation, in der ich nicht Herr über mich bin, sie fürs Leben prägen wird - und ihr soll es niemals so gehen wie mir!

Ich muss lernen, mit Borderline zu leben

Ich werde Borderline nie mehr loswerden, aber ich kann anfangen, die Krankheit zu akzeptieren und damit zu leben - und das versuche ich. Durch die Therapie habe ich gelernt, warum ich reagiere wie ich reagiere: Meine Belastungsfähigkeit ist gleich Null und jede kleine Anstrengung sorgt für einen körperlichen Zusammenbruch.

So befreie ich mich langsam von dem Gedanken, so schnell wie möglich eine Ausbildung machen zu müssen, und freunde mich mit der Idee an, zuerst einen geregelten Tagesablauf zu finden. Das fällt mir schwer, ständig muss ich an Dinge erinnert werden, aber es nimmt Formen an. Dafür hatte ich in den letzten Monaten mehr Anfälle als im Jahr zuvor und streite mich immer öfter mit meinem Mann. Kuscheln ist mehr und mehr ein Fremdwort und jeder geht seiner Wege.

Vielleicht schaffen wir es doch nicht? Sicher, er wollte immer für mich da sein, aber kann ich von einem jungen Mann verlangen, seine Bedürfnisse zurückzustellen und nur auf mich Rücksicht zu nehmen, wenn ich mal wieder keine Lust zu etwas habe? Aber ich kann mich ja auch nicht zu Sachen zwingen! Ich will wieder glücklich und ausgeglichen sein. Wieder innere Ruhe finden. Und das kann ich nur, wenn ich auch auf mich höre. Ob wir noch eine Zukunft haben? Wir werden sehen.

Ich bin jetzt ein Jahr in Therapie und mein Leben hat sich ziemlich verändert. Ich habe mir vorgenommen, eine gerade Linie in mein Leben zu bekommen. Wie das am Ende aussehen wird, weiß niemand. Aber ich werde versuchen, das Beste daraus zu machen.

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