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Wir sind so viel besser, als wir glauben - Schluss mit dem Optimierungswahn!

Jeder kennt ihn, den Wunsch, noch ein bisschen besser zu werden - schlanker, effektiver, fürsorglicher, produktiver. Auch Sarah Steigerwald ist vor Perfektionismus nicht gefeit. Und fragt in der Leserkolumne "Stimmen" trotzdem: Sind wir nicht besser, als wir glauben?

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Drohend liegt sie vor mir. Wieder einmal schafft sie es, mir ein schales Gefühl von Unzulänglichkeit zu vermitteln. "Du bist nicht schnell genug, du bist nicht gut genug", schmettert sie mir vorwurfsvoll entgegen. Ja, sie hat Macht über mich. Habe ich doch manchmal das Gefühl, dass allein sie über mein Glück oder Unglück, über Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Ich rede von meiner To-Do-Liste. Jener berühmten Liste, die so gar nie enden will, egal wie sehr ich mich bemühe, das von ihr vorgegebene Pensum abzuarbeiten. "Ja, ich weiß. Ich sollte disziplinierter, produktiver, effektiver, ehrgeiziger und flexibler sein", antworte ich oft eingeschüchtert. Doch stimmt das? Müsste ich? Sollte ich?

Ich hab da eine Freundin, Melanie. Melanie interessiert sich für Spiritualität und Psychologie. Sie hat eine To-Do-Liste der besonderen Art. Für Melanie gibt es nichts zu erreichen, sondern nur etwas loszuwerden. Blockaden sind zu eliminieren, negative Emotionen zu vermeiden und jegliche Bewertungen zu unterlassen. Melanie arbeitet hart an sich und ihrer Erleuchtung, fest entschlossen ein besserer Mensch zu werden. Dabei ist sie bereits jetzt einfach wundervoll.

Meine Freundin Anke sammelt Ernährungsratgeber wie andere Menschen Überraschungsfiguren. Egal ob ayurvedisch, basisch, rohköstlich - Anke ist seit Jahren auf der Suche nach der richtigen Ernährungsform. Sie hat so ziemlich alles ausprobiert, was moderne Ernährungsratgeber zum Besten geben. Einmal im Monat lässt sie fünfe gerade sein und gönnt sie sich einen Cappuccino. Nicht ohne schlechtes Gewissen, schließlich geht es um nichts Geringeres als ihre Gesundheit. Während ich mir zum Cappuccino ein Stück Kuchen bestelle, fühlt sich Ankes Streben nach Gesundheit irgendwie ungesund an.

Meine Freundin Marie ist selbstständige Marketingberaterin. Sie macht wirklich großartige Arbeit und ihre Kunden lieben sie. Trotzdem kommt sie nicht zur Ruhe. Ständig strebt sich nach mehr, ständig zweifelt und vergleicht sie sich. Sie optimiert ihr Angebot, ihr Zeitmanagement, ihre Außenwirkung. Marie optimiert eigentlich alles, außer ihrer Fähigkeit sich selbst zu loben und endlich einmal stolz auf ihre Erfolge zu sein.

Und dann ist da noch Julia. Julia ist Mama von zwei wundervollen Töchtern und hat stets das Gefühl, nicht zu genügen. Andere Mütter scheinen irgendwie alles besser zu machen, alles besser im Griff zu haben, alles besser zu organisieren. Dabei ist Julia eine tolle Mutter und ich wünschte, sie könnte sich für einen Moment aus den liebenden Augen ihrer Töchter betrachten.

Zugegeben, Melanie, Anke, Marie und Julia existieren nicht in der Form, wie ich sie gerade beschrieben habe. Trotzdem sind sie mir auf die ein oder andere Weise schon oft begegnet und auch ich erkenne mich in ihnen. "Ich muss besser werden", scheint das Mantra unserer Zeit zu sein. Schon lange geht es dabei nicht nur um Themen wie die perfekte Figur oder das beste Aussehen. Diese Entwicklung betrifft Frauen mit den unterschiedlichsten Lebensentwürfen. Wir streben nach der gesündesten Ernährungsform, dem ganzheitlichsten Sportprogramm und der besten Entgiftungsmethode. Doch wir optimieren nicht nur unseren Körper, sondern auch unser Leben. Wir verwirklichen unsere Träume, wir setzen uns Ziele, wir achten darauf, keinen Moment zu verschwenden. Alles soll Sinn machen. Carpe diem, nutze den Tag. Wir arbeiten hart an unserer Karriere, streben nach der perfekten Beziehung und geben unser Bestes, gute Mütter zu sein. Und all das ist wunderbar! Weil es zeigt, dass wir Verantwortung übernehmen. Weil es zeigt, dass wir uns zutrauen, unser Leben aktiv zu gestalten. Weil es zeigt, dass wir heutzutage eine Wahl haben.

Trotzdem spüre ich: Manchmal wird der Wunsch nach Weiterentwicklung zum Druck. Manchmal machen wir uns zur Sklavin unserer eigenen Ansprüche. Nämlich immer dann, wenn der Wunsch, die Kontrolle zu behalten, übermächtig wird. Und immer dann, wenn wir vergessen, wie großartig wir sind.

Denn wenn ich mich umschaue, sehe ich überall großartige Frauen. Frauen, die Leben schenken und nächtelang an den Betten ihrer Kinder wachen. Frauen, die den Mut haben für ihre Ideale zu kämpfen. Frauen, die sich gegenseitig die besten Freundinnen sind. Frauen, die ihre Ängste kennen und wissen, wann es sich lohnt, diese zu überwinden. Frauen, die hilfsbereit, großzügig und fürsorglich sind. Frauen, die erlauben ihr Herz brechen zu lassen, um dann loszugehen und etwas in dieser Welt zu verändern. Frauen, die täglich ihr Bestes geben und die unermesslich wertvoll sind für all die Menschen in ihrem Umfeld.

Was also brauchen wir, um zu erkennen, wie wunderbar wir sind? Vielleicht braucht es ja lediglich unsere Entscheidung. Unsere Entscheidung, endlich durch all die nebligen Schleier von Perfektionismus, Selbstzweifel und Ehrgeiz hindurchblicken und zu erkennen, was bereits da ist. Unsere Entscheidung, unseren Fokus künftig auf unsere Stärken zu richten, statt auf unsere Schwächen und Unzulänglichkeiten.

Unsere Lebenszeit wird die gleiche sein, egal ob wir sie kämpfend oder im Frieden mit uns selbst verbringen. So lasst uns gemeinsam die Entscheidung treffen, gut genug zu sein. Dies wird uns enorme Entspannung bringen und dies wird auch der Nährboden für eine gesunde Selbstverwirklichung sein. Wir können erkennen, was wir uns wirklich wünschen und werden auch die Kraft haben, unsere Träume und Wünsche zu verwirklichen. In Freude, aber ohne Kampf gegen uns selbst. Die Welt braucht keine perfekten Menschen mehr. Die Welt braucht uns, mit all unseren Ecken und Kanten, Stärken und Schwächen, Hoffnungen und Ängsten. Denn genau das ist es doch, was uns so lebendig und wertvoll macht.

Ja, wir sind längst gut genug. Du bist gut genug - sofern du es erlaubst.

Text: Sarah Steigerwald

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