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Palliativmedizinerin erzählt "Ich bleibe, wenn Heilung nicht möglich ist"

Palliativmedizinerin Elisabeth Freitag
© privat
Wie kann man das Sterben und den Tod erträglicher machen? BRIGITTE.de-Leserin Elisabeth Freitag ist Palliativmedizinerin mit Leib und Seele. Sie sagt: Sterbebegleitung macht alle reicher.

"Wir sind alle auf dem gleichen Weg"

Nina war 19, ich 24, als unsere Begegnung meinen beruflichen Lebensweg besiegelte. Sie war Patientin in der Klinik, in der ich eine praktische Zeit absolvierte, auf dem Weg, Ärztin zu werden. Dort war sie inmitten älterer Patienten der junge Kolibri und irgendwie fehl am Platz. Sie hatte Krebs, der begonnen hatte, wie besessen nach ihrem Leben zu greifen.

Nina und ich zogen uns magisch an. Ich sie, weil ich ihr durch unser neugieriges Kennenlernen unbekümmerte Mädchenmomente schenkte. Sie mich, weil sie mich mit ihrer Art, würdevoll jeden neuen Tag anzulächeln, lehrte, Schwere zu ertragen. Wir weinten zusammen und verrieten es niemandem. Sie nicht, weil sie eine tapfere Tochter, ich nicht, weil ich eine tapfere Ärztin sein wollte. Nie werde ich ihr Strahlen vergessen, als ich unbedacht zu ihr sagte: "Nina, du bist eine so schöne Frau!" Später erst begriff ich, dass ich damit etwas Kostbares in ihr anrührte, das von der Krankheit verschüttet worden war.

Wir weinten zusammen und erzählten es niemandem

Nina starb keine zwei Wochen später an einem sonnensatten Morgen. Still und tapfer im Beisein ihrer Familie. An dem Morgen nicht noch mal bei ihr gewesen zu sein, hinterließ mich in der Ungewissheit, ob ihr Sterben federleicht gelungen war. Sie war so tapfer, dass man ihre Not schnell übersehen konnte.

So plötzlich Nina in meinem Leben aufgetaucht war, so schnell wurde sie mir entrissen. Die Medizinerin in mir begriff, dass Nina hatte sterben müssen. Aber der große Rest heulte Rotz und Wasser, wütend die Ungerechtigkeit der Welt verfluchend. Später war ich von mir selbst erschüttert, als sich das Gefühl von "es ist in Ordnung" einstellen wollte, das sich gesund und zugleich wie Hochverrat anfühlte.

"Sterben retten" heißt auch "Leben retten"

Der erste Trost kam mit dem Einsehen, Nina in der schlimmen Zeit gute Stunden geschenkt zu haben, mit Leichtigkeit und auch Lachen. Allein dadurch, dass mein Dasein und Mitaushalten etwas verbessert hatten, bekam ich eine Ahnung davon, wie viel ich bewirken könnte, wenn ich über das medizinische Wissen verfügen würde, Symptome kontrollieren zu können. Ich begriff, dass "Sterben retten" auch Lebensrettung war.

Nina begleitet mich seither. Ich bin Ärztin für Palliativmedizin geworden. Dieser Profession gehört mein Herz. Zu bleiben, wenn Heilung nicht mehr möglich ist, den Weg als Vertraute mitzugehen und das Unerträgliche versuchen, erträglich werden zu lassen. Der Moment des Wahrwerdens schlimmster Befürchtungen oder einer fatalen Botschaft aus heiterem Himmel – ein Moment, der das gewohnte Leben pulverisiert, in Zeitraffer und Zeitlupe zugleich. Unumkehrbar, vernichtend und gnadenlos droht sich das Leben in dem Moment selbst zu verschlucken, wenn es den Spiegel der Endlichkeit vorhält.

Palliativmedizinische Betreuung ist ein Fallschirm, den man im besten Fall bereits zum Zeitpunkt der Diagnose einer unheilbaren Erkrankung umschnallt, um sich an das Gefühl einer Sicherheit zu gewöhnen, in einer Zeit, in der kaum mehr etwas sicher scheint. Über möglicherweise zu erwartende Krankheitssymptome zu sprechen, heißt nicht schwarz zu malen und sie heraufzubeschwören. Im Gegenteil: Es erschafft die Möglichkeit, bereit zu sein und dann einen Plan zu haben, was wiederum bedeutet, nicht hilflos zu sein, sich den Symptomen der Erkrankung nicht tatenlos ausliefern zu müssen. Das bewahrt Autonomie, und das ist das Ziel.

Angst vor dem Tod, Angst vor dem Sterben

Ich sehe bei meiner Arbeit, dass man unterscheiden muss, ob jemand Angst vor dem Tod oder Angst vor dem Sterben hat. Für manche Menschen ist "tot sein" einfach "weg sein" und die Vorstellung erträglich, weil man daran ja irgendwie nicht mehr beteiligt ist. Oder weil durch den Glauben eine religiöse Vorstellung vom "Danach" besteht und dies tröstet. Für andere ist das unvorstellbar – oft aus Angst davor, was aus den Menschen wird, die hierzubleiben und mit dem Verlust weiterzuleben haben. Wieder andere Menschen haben weniger Angst vor dem Tod als vor dem Sterben. Angst davor, sich quälen zu müssen, hilflos zu sein und Selbstbestimmung aufzugeben. Sich diesen Ängsten und Gedanken in einer Begleitung gemeinsam zu stellen, macht alle Beteiligten reicher, auch wenn keiner die definitive Antwort kennt.

Das oberste Ziel der Palliativmedizin ist der bestmögliche Erhalt von Lebensqualität. Diese Aufgabe hat viele Dimensionen. Not entsteht nicht nur durch Leiden an körperlichen Symptomen, sondern auch aufgrund ungelöster Lebensfragen, spiritueller Not, finanziell existenzieller Sorgen und unerfüllter Wünsche. Auch der Wunsch, daheim zu sterben, kann von Selbstverständnis bis Belastungsprobe alles darstellen. Es gilt, Sterbende und Angehörige an die Hand zu nehmen und gemeinsam abzuwägen, mit welcher Hilfe welche Pflege an welchem Ort leistbar ist.

Dem Tod einen Weichzeichner verpassen

Palliativmedizin kann den Tod nicht romantisieren, und doch schafft sie es meist, die Wucht seiner Ankunft zu mildern und seinem Antlitz einen Weichzeichner zu verpassen. Und während des Erlebens von Sterben bei Angehörigen einen Moment zu schaffen, der erst im Schmerz untergeht und dann, wenn die Trauer sich entfaltet, in der Erinnerung zu blühen beginnt und dann zu trösten vermag.

Palliativmedizinerin erzählt: "Ich bleibe, wenn Heilung nicht möglich ist"
© Spirit Rainbow Verlag

Die Autorin: Elisabeth Freitag wurde 1984 in Erfurt geboren. Nach einer Tätigkeit als Hausärztin und bei der "Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung" (SAPV) arbeitet sie seit 2019 in der Südpfalz in einer Klinik für Geriatrie und Palliativmedizin. Ihr Roman "Der Endlichkeit ein Ende: Das Leben und Werden der Emma Lillit" (Spirit Rainbow Verlag, 17 Euro) möchte Mut machen, sich im Schutz einer Liebesgeschichte mit den angstbesetzten Themen des Lebens und Sterbens auseinanderzusetzen. Sie sagt: "Wir riskieren nichts, wenn wir übers Sterben nachdenken und sprechen. Die Angst ist ein Gespenst, dem wir gemeinsam etwas entgegensetzen können. Sie sind nicht allein. Wir alle sind auf dem gleichen Weg."

Brigitte

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