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Dank Pandemie Leben 2.0: Zurück zur Uni mit 46

Neustart durch Pandemie
Katja (46) hat ihren Job gekündigt, um nochmal zu studieren
© privat
Keine Reisen, kaum Konsum: BRIGITTE-Leserin Katja (46) hat durch Corona viel Geld gespart. Sie nutzte es, um neu anzufangen.

Ich lese den Fragebogen, der vor mir liegt. Zehn dicht bedruckte Seiten wollen so ziemlich alles über mein Leben wissen, was es zu wissen gibt:

"Waren Sie jemals im Gefängnis?"

Ja. Ich hatte bis vor Kurzem die 40 Stunden-Woche.

"Sind Sie jemals der Prostitution nachgegangen?"

Als Frau müsste ich ehrlicherweise auch hier "Ja" ankreuzen. Jemandem was vorspielen muss man im Berufsleben ständig. Miese Entscheidungen für gut befinden, zum Beispiel. Inkompetenz der Vorgesetzten ignorieren und kompensieren. Und über die schlechten Witze vom Vorstand zu lachen, kostet fast so viel Überwindung wie mit ihm ins Bett zu gehen. 

Den Fragebogen fülle ich im Plasma-Zentrum aus. Ich lasse mich erstmals registrieren und habe vor, in Zukunft regelmäßig Blutplasma zu spenden. Der Grund: Ich brauche das Geld. Denn ich habe beschlossen, dass es mir reicht mit dem Job. Zwar vielleicht nicht endgültig, aber zumindest vorübergehend. Ich will wieder studieren.

Ich möchte an die beste Zeit meines Lebens anknüpfen und wieder an die Uni gehen. Das Studium war – trotz mehrerer Jobs – die interessanteste und lustigste Zeit meines Lebens.

Außerdem: Doppelbelastungen kann man als Frau nie genug haben. Nach elf Jahren Tristesse bei sehr guter Bezahlung, jedoch ohne jegliche Perspektive, wage ich den Neuanfang.

Ich kündige - und fühle mich befreit

Anstatt von Existenzängsten geplagt zu sein, fühle ich mich wie der Graf von Monte Cristo in jener legendären Szene, als er unter Wasser den Leichensack aufschneidet und mit letzter Kraft an die Oberfläche schwimmt, nach Luft ringt und die geballte Faust in den strahlend blauen Himmel reckt. Es ist vollbracht – die Kündigung ist unterbreitet, fristgerecht und formvollendet!

Großes Erstaunen auf der Chef-Seite. Ich muss mich beherrschen, meinen guten Vorsatz, im Guten zu gehen, nicht mitsamt meiner guten Erziehung über Bord zu werfen. Die Blicke meiner Noch-Vorgesetzten erinnern mich an meinen Hund, wenn er unerlaubterweise im Garten Löcher auf Jules-Verne-Niveau gebuddelt hat und wusste, dass er die Schuld diesmal nicht auf das Eichhörnchen würde schieben können.

"Was können wir noch tun, um dich zu halten?", fragte allerdings niemand.

"Was hätten wir denn anders/besser machen können?", auch nicht.

Ich würde euch gerne so viel sagen. Zum Beispiel, dass ich mir manchmal Mobbing gewünscht hätte – von euch. Das hätte wenigstens bedeutet, dass ich euch den einen oder anderen Gedanken wert war. Allein – nichts passierte. Die Arbeit wurde mehr, dann kam Corona, dann das Homeoffice, dann die Kurzarbeit. Zu allem haben wir brav Ja und Danke gesagt. Zu allem, was ich mir an Zugeständnissen für meine Arbeit erbeten hatte, habt ihr Nein gesagt. 

Corona hat den Anstoß gegeben

Mein Ausstieg mag spontan erscheinen, ist allerdings gut vorbereitet. Ich bin vielleicht auf der Zielgeraden in die Midlife-Crisis (Zitat Chef Nr. 1), aber nicht leichtsinnig. Die letzten Monate hindurch habe ich jeden Cent zur Rücklagenbildung investiert.

Dank Corona bekam ich die Anzahlung für gebuchte Urlaube zurück - und die vielen spontanen Trostkäufe, für die mein Gehalt sonst so in die Wirtschaft floss, entfielen auch.

Als finales Zeichen teilte mir die Bank überraschend mit, dass das Darlehen für meine Wohnung nun getilgt sei. Ich war schuldenfrei und konnte meine Fixkosten auf einem niedrigen Niveau halten.

Dann bekam ich sogar fast wieder den Job, den ich schon damals zu Studentenzeiten hatte. Den hämischen Kommentar von Chefin Nr. 2 – "Soso, dritter Bildungsweg also?" - ignorierte ich und dachte mir beim Blick auf ihr Dekolletee, das in Tiefe und Zerfurchung an einen Ausläufer der Schweizer Alpen erinnert: Lieber dritter Bildungsweg als fünfter Frühling. Die Würfel sind gefallen – und meine Hemmungen anscheinend auch.

Chef Nr. 3 – das Modell "jung & ambitioniert" - fragte mich immerhin, was ich neben Studieren in Zukunft noch so machen möchte. "Mir wöchentlich eine Nadel in die Venen rammen lassen, damit ich für euch nicht mehr arbeiten muss", hätte ich gerne geantwortet. "Leben" sagte ich stattdessen.

Die Autorin: Katja (46) lebt in der Nähe von Innsbruck. Wohin der zweite Bildungsweg sie noch führen wird, ist unklar, bleibt aber spannend.

Brigitte

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