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Leserin erzählt "Geh an die Orte, die du fürchtest"

Neuanfang Andrea
© privat
Mit 53 Jahren steckte BRIGITTE.de-Leserin Andrea in einer Sackgasse und fühlte sich uralt. Dann fing sie ein neues Leben an.

Ich bin 61 und schreibe die letzten 20 Seiten meiner Masterarbeit. Dass ich genau da bin, wo ich jetzt bin, hat vor allem mit zwei Mantras zu tun, die irgendwann in meinen Fünfzigern kräftige Wurzeln in meinem Bewusstsein schlugen und mir ein gewisses Wohlgefühl bereiteten: „Ich tue, was ich will“ und „Ich kann alles, was ich will.“

Mein Leben begann wieder spannend zu werden, als äußere Umstände vor acht Jahren mein Gehirn zwangen, neue Synapsen zu bilden.

Ich war 53 und lebte mit meiner Familie in der Provence, weit weg von meinem Heimatland, und wurde verfolgt von dem Gefühl, uralt zu sein. Die Empfindung finaler Stagnation hatte mich beschlichen - am Ende zu sein und niemals wieder aus dieser Situation herauszukommen.

Mir war, als hätte ich mich selbst ins Aus geschossen

Die Ehe war auf dem Nullpunkt, aber vor allem das Gefühl finanzieller Abhängigkeit hielt mich in einer Art Schockstarre. Doch je schlimmer es wurde, umso deutlicher vernahm ich eine leise, irgendwie bekannte Stimme, die auf mich einredete, und die so gar nichts mit der Frau zu tun hatte, die ich seit Jahren lebte. Sie war plötzlich da, leise und noch zögerlich, aber penetrant auf mich einredend.

Diese Stimme flüsterte von Neuanfang, und je länger sie flüsterte, umso deutlicher nahm ich den wunderbaren Duft eines Parfums wahr, dessen Name Abenteuer zu sein schien.

Dieser Duft weckte tief in meinen Eingeweiden die vage Erinnerung an etwas, das ich wohl irgendwann, irgendwo auf meinem Weg zurückgelassen hatte.

Die Kinder ließen mich ziehen

Nun, ich bin Skorpion, und Abenteuer übten von jeher eine magische Anziehungskraft auf mich aus. Meine großen Vorbilder waren Frauen wie Alexandra David Neel (sie hat ihren Reisepass noch mit 97 verlängert), Astrid Lindgren (sie hat erst in ihren Vierzigern angefangen, zu schreiben) und Gertrude Bell (als Forschungsreisende zur Königin der Wüste gekrönt). Allen gemeinsam war, dass sie das Frauenbild und die damit verbundenen Konventionen ihrer Zeit ignorierten und taten, was sie für richtig hielten.

Wie auf etwas, auf das man einen heimlichen, schnellen Blick wirft, von dem man weiß, man sollte eigentlich nicht, es dann aber trotzdem mit schlechtem Gewissen ganz, ganz kurz tut, so warf ich fortan Blicke ins Internet. Wie sah es eigentlich (nur mal so) mit Stellenangeboten in meinem Job aus? Ich hatte einen Beruf gelernt, irgendwann mal - Gott sei Dank hatte ich das noch nicht komplett verdrängt -, aber würden sie mich überhaupt (nur mal angenommen) noch nehmen?

Taten sie. Ich ließ Mann und zwei halb erwachsene Jungs zurück. Letztere hätte ich liebend gern mitgenommen, aber das kam für sie nicht infrage. Mit vorbildlichem Gleichmut, der mir als buddhistischer Mutter vor Bewunderung und Dankbarkeit die Tränen in die Augen trieb, gaben sie mir ihren Segen und ließen mich ziehen, während ich mich ganz unbuddhistisch im Abschiedsschmerz wälzte.

Reise in ein neues Leben – mit zehn Kartons

Und so begann die Reise in ein neues Leben mit zehn Kartons, verschnürt auf einer Palette, 300 Euro, die mir ein Freund ausgelegt hatte, und einem Fernbus-Ticket für 99 Euro nach München. In meinem neuen Zuhause, einem kleinen Zimmer in einer WG, feierte ich in seliger Einheit mit mir selbst meine wiedergewonnene Unabhängigkeit. Jeden Monat kam ein Gehalt auf mein Konto, halleluja, und ich stieß - mit einer Flasche Bier - mit mir selbst darauf an.

Den Job erledigte ich, als hätte ich niemals eine Pause eingelegt, und gleich im ersten Jahr entschloss ich mich zu einer Fortbildung. Ich lernte Salsa, verliebte mich in geheimnisvolle Männer aus fernen Ländern und fand, nach vielen Jahren, endlich wieder eine beste Freundin. Mit 56 begann ich ein Master-Studium, das ich neben meinem Fulltime-Job absolvierte. Nein, es war und ist nicht immer so leicht, wie es klingt. Vor allem nicht mit den Männern, aber das ist eine andere Geschichte.

Man muss sich in Bewegung setzen

Bekanntlich lernt man ja besonders gut durch Erfahrungen und ich persönlich vor allem durch schlechte. Die macht Frau solange, bis die Lektion gelernt ist, oder - um es etwas kryptisch auszudrücken – bis sie die geworden ist, die sie sowieso eigentlich schon immer war. Der Nebel, der einem den Blick auf die eigene Kraft versperrt, beginnt sich für die meisten von uns nur Schritt für Schritt zu lichten. Und dieses „Schritt für Schritt“ ist durchaus auch physisch gemeint. Schritte müssen getan werden, sonst lebt man weiter in derselben alten Gedankenwelt.

Ich habe mir irgendwann einen Satz der buddhistischen Nonne Pema Chödrön zu einer Art Lebensziel gemacht: "Geh an die Orte, die du fürchtest." Ich habe das Wort „Hindernis“ durch das Wort „Herausforderung“ ersetzt und was soll ich sagen - seitdem ich mich in Bewegung gesetzt habe, läuft es ...

Die Autorin: Andrea lebte 15 Jahre mit Mann und zwei, inzwischen erwachsenen, Söhnen in der Provence. 2013 ist sie nach München gezogen. Ihr jüngerer Sohn lebt inzwischen auch dort, ihr älterer Sohn bei seinem Vater in der Provence. Andrea wurde in der buddhistischen Zen-Tradition zur Nonne ordiniert und ist geschieden.

 

Brigitte

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