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Missbrauch als Kind "Um zu leben, musste ich mein Schweigen brechen"

Missbrauch Kind - Das Schweigen brechen
© sruilk / Symbolfoto / Shutterstock
BRIGITTE.de-Leserin Gisela Föllmi (57) wurde als Kind von mehreren Männern schwer missbraucht. Erst viele Jahre später lernte sie, darüber zu sprechen – und zu heilen.

An einem Samstag klingelt der Paketbote mich aus dem Tiefschlaf. Mit klopfendem Herzen öffne ich das Paket und halte mein Buch in den Händen: So viele unterschiedliche Emotionen im selben Moment! Es ist nicht zu glauben, wie viele Tränen, Elend und Schrecken ich beim Schreiben meiner Geschichte durchlebt habe. Und nun rinnen Freudentränen!

Die Erinnerungen kamen stückchenweise ans Licht

Eineinhalb Jahre zuvor war in meinem Inneren sprichwörtlich ein Bunker explodiert. Eine grausame und unvorstellbar brutale Erinnerung aus meiner Kindheit drängte aus meinem Innersten ans Licht: Mir wurden die Fußsohlen mit Zigarettenglut verbrannt. Als Strafe für eine kleine Unfolgsamkeit. Ich war damals vier Jahre alt.

Das brachte alles ins Rollen. Stückchenweise kamen sie, die Erinnerungen. Auch die Erinnerungen an sexuelle Gewalt. Daran, wie ich mit sieben Jahren das erste Mal an einen Mann verkauft wurde. Daran, wie mich mein Stiefvater vergewaltigte. Daran, wie meine Mutter nicht nur wegschaute, sondern alles unterstützte. 

Plötzlich konnte ich nicht mehr schweigen

Dann kam er, der übermächtige Gedanke, dass jetzt genug geschwiegen war. Hatte ich durch viel Gewalt in meiner Kindheit einprägsam lernen müssen, dass Reden lebensgefährlich war, konnte ich plötzlich nicht mehr schweigen. Endlich wollte ich mich den Abgründen meiner zutiefst traumatisierten Kinderseele stellen. Alles ausleuchten, alles erinnern, alles ansehen. Und dann versuchen, einen Weg zu finden, Frieden mit mir zu schließen.

Ich begann, alles aufzuschreiben. Die schreckliche sexuelle Gewalt, die mir angetan worden war, auszusprechen, das schaffte ich am Anfang nicht. Das Unfassbare in Worte zu fassen, gelang mir nur beim Schreiben. Auf diese Weise wurde es mir mit der Zeit und im geschützten Rahmen einer Psychotherapie möglich, auch darüber zu sprechen.

Um das, was mit mir geschehen ist, zu verarbeiten, ging ich an meine äußersten Grenzen. Schreibend tauchte ich noch einmal in die Taten von damals ein, spürte, schmeckte, roch, fühlte. Dieses Eintauchen ist grauenhaft, aber es ist das Essenziellste geworden. Denn nur dadurch bin ich in der Lage, alles so zu erinnern, dass ich es – in klitzekleinen Stückchen – weglegen kann.

Selbstliebe üben - jeden Tag von Neuem

Zu akzeptieren, wie versehrt ich bin, hilft mir heute, ein gutes Leben zu führen. Für mich einzutreten und Nein zu sagen, wenn ich Nein meine, hilft mir dabei, mich zu lieben. Doch was so leicht klingt, ist schwer und jeden Tag aufs Neue eine bewusste Entscheidung: "Gisela, Du bist liebenswert!"

Das Thema sexuelle Gewalt an Kindern ist in den Medien präsent. Trotzdem weiß kaum jemand, wie man sich als Opfer fünfzig Jahre später immer noch schämt, sich ekelt, Albträume hat. Der Umgang mit mir als Partnerin ist oft sehr anspruchsvoll.

Leben statt bloß zu existieren

Es wäre schön, wenn meine Offenheit dazu beitragen könnte, Kinder vor Gewalt zu schützen. Es wäre auch schön, wenn ich mit meinem persönlichen Kampf anderen betroffenen Menschen Mut machen könnte, nicht in der Opferrolle zu verharren.

Sich zu entscheiden, das Schattendasein des missbrauchten Kindes zu verlassen und in die Sonne zu treten, ist jede Anstrengung wert.

Und es hilft, nicht nur zu existieren, sondern zu leben. Leben heißt für mich Brot, Senf, Gebäck, Butter und Konfitüre selber zu machen. Leben heißt für mich, einen Regenwurm zu retten, die Blumen auf der Wiese bewusst zu sehen und mich an der Hummel zu freuen, die auf meinem T-Shirt landet. Leben heißt auch herzhaft lachen zu können, und loyal, ehrlich und aufrecht dazustehen.

Es hat 50 Jahre gedauert, aber ich habe es geschafft! Ich lebe! Dass ich das heute sagen kann, hat ausschließlich damit zu tun, dass ich mein Schweigen brach. Das Resultat liegt heute in meiner Hand – mein Buch!

Missbrauch als Kind: "Um zu leben, musste ich mein Schweigen brechen"
© Wörterseh Verlag

Die Autorin: Gisela Föllmi war sieben Jahre alt, als sie von ihrem Stiefvater zum ersten Mal an einen Mann verkauft wurde. Sie hatte keine Chance, sich zu wehren. Nicht gegen diesen Übergriff und auch nicht gegen die Übergriffe von weiteren Männern. Und erst recht nicht gegen die ihrer Mutter. Als abhängiges Kind musste sie schweigen. Um zu überleben, spaltete Gisela die Traumatisierungen ab, versenkte alles in ihrem inneren Schlimme-Dinge-Schrank. Doch sie blieben durch die damit verbundene extreme Anspannung omnipräsent. Gisela Föllmi sagt rückblickend: "Ich habe mich und das Leben nicht ertragen und wusste nie, warum." Als sie das erkannte, dauerte es noch Jahre, bis sie über das Unsagbare reden konnte. Gisela Föllmi ist verheiratet und lebt in der Schweiz.

Brigitte

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