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"Ich war nicht mehr gesellschaftsfähig" - mein Leben mit dem Schmerz

Gudrun, 57, hat als Studienrätin an einer berufsbildenden Schule gearbeitet, bis sie den Beruf krankheitsbedingt aufgeben musste. Nach einer längeren Pause ist sie seit einiger Zeit freiberuflich in der Ernährungsbildung und Beratung tätig. Sie sagt: "Glück ist die Abwesenheit von Schmerz" (Zitat von Hildegard Knef).
Gudrun, 57, hat als Studienrätin an einer berufsbildenden Schule gearbeitet, bis sie den Beruf krankheitsbedingt aufgeben musste. Nach einer längeren Pause ist sie seit einiger Zeit freiberuflich in der Ernährungsbildung und Beratung tätig. Sie sagt: "Glück ist die Abwesenheit von Schmerz" (Zitat von Hildegard Knef).
© Privat
Seit 14 Jahren leidet Gudrun unter Migräne. Sie hat wegen dieser Krankheit viel verloren, wurde aber oft nicht ernst genommen. In der Leserkolumne "Stimmen" spricht sie daher lieber von chronischen Schmerzen - und will endlich klarmachen, warum Migräniker alles andere als "hysterisch" sind.

Chronische Schmerzen und ihre Auswirkungen begleiten mich seit 14 Jahren. Sie haben mir die Arbeit genommen, ein normales soziales Leben unmöglich gemacht und stellen die Familie und den kleinen noch vorhandenen Freundeskreis immer wieder auf eine harte Probe. Wenig ist von mir und dem Leben, für das ich hart gearbeitet habe, übrig geblieben. Nur der Schmerz, der ist geblieben, ebenso wie die Angst vor dem Schmerz.

Am Anfang waren es ein paar Tage im Monat, an denen die Schmerzen auftraten, innerhalb von zwei Jahren wurden daraus 15 bis 20 Tage. Ich habe in diesen zwei Jahren alles versucht, was Aussicht auf Besserung versprach, ohne Erfolg.

Erst der Gang zum Schmerztherapeuten eröffnete mir die Möglichkeit einer wirksamen Attackenmedikation und die erleichternde Erkenntnis, nicht psychisch krank zu sein, wie es Aussenstehende gern signalisierten. Meine Schmerzen waren real, ich hatte nicht selbst Schuld und ich bekam Medikamente, die ich ausprobieren konnte. Endlich hatte ich eine Diagnose und die Gewissheit, nicht verrückt zu sein oder zu simulieren. Dieses Gefühl, verstanden zu werden, war überwältigend. An zehn Tagen im Monat durfte ich die Medikamente nehmen. Natürlich reichte das nicht, und die unfassbare Qual, die Schmerzen aushalten zu müssen, obwohl Medikamente vorhanden waren, brachte mich immer dazu, mehr einzunehmen. Vorbeugende Medikamente brachten zwölf Jahre keinen Erfolg.

Regelmäßig wachte ich an drei bis vier Tagen in der Woche schon mit hämmernden Kopfschmerzen und Übelkeit auf. Häufig schlich sich aber auch ein drückender und stechender Kopfschmerz über den Vormittag vom Nacken in Richtung einer Stirnhälfte. Ich hatte das Gefühl, dass mir von innen das Auge herausgedrückt wurde oder ein Messer hinter dem Auge herumgedreht wurde. Jeder Schritt verstärkte den Kopfschmerz, jedes gesprochene oder gehörte Wort war eigentlich zu viel und immer wieder kam es vor, dass ich aus dem Klassenraum rannte, um mich zu übergeben, einer Ohnmacht nahe, denn der Schmerz wurde dabei noch schlimmer. Kamen die Medikamente wieder mit heraus, musste ich erneut versuchen, welche einzunehmen. Im besten Falle waren die Schmerzen nach vier bis sechs Stunden zumindest weniger.

In den Stunden, bis die Medikamente halfen, arbeitete ich wie ein Zombie einfach weiter, denn allein die Übelkeit und das Erbrechen waren entsetzlich, vom Schmerz ganz zu schweigen. Ich hätte mich hinlegen müssen, dem Lärm und dem hellen Tageslicht entfliehen sollen, damit es etwas erträglicher würde. Ich machte weiter und nach 24 Stunden waren alle Symptome wieder da und das Spiel begann von Neuem.

Mehr als die Hälfte meiner Lebenszeit verbrachte ich mittlerweile mit diesen Krankheitssymptomen, pendelte zwischen Bett, Arbeitsplatz und Toilettenbecken hin und her. Mein gesamtes Leben und das der Familie wurde dieser Schmerzerkrankung untergeordnet, jeder vermeintliche Auslöser akribisch vermieden. Das bedeutete, Meiden von Lärmquellen, Gerüchen, starken Lichtquellen, starken Temperaturschwankungen, körperlicher Anstrengung, Zeitverschiebung etc. Das soziale Leben bewegte sich damit gegen Null, denn ich mied Menschenansammlungen jeder Art, ich war nicht mehr "gesellschaftsfähig".

Nach einem weiteren Jahr dieses Martyriums und einem stationären Klinik-Aufenthalt war klar, so geht es nicht weiter, denn ich war am Ende meiner Kräfte. Ich musste mich mit Mitte Vierzig in den Ruhestand verabschieden. Nicht weil ich so viele Fehltage gehabt hätte, sondern weil meine Kräfte zunehmend nachließen und die Flut der Medikamente zu groß wurde, um den Alltag aufrecht zu erhalten. Die Medikamente konnten zwar den akuten Schmerz für ein paar Stunden unterbrechen, aber er kam in schneller Folge immer wieder.Ich habe immer gern gearbeitet, weil es mir Freude machte, junge Menschen auf ihrem Lebensweg zu begleiten. Ich kann niemandem sagen, wie viel Tränen es mich gekostet hat, meinen Beruf aufzugeben. Zu Anfang konnte ich mir noch einbilden, dass es nur längere Sommerferien waren, nach zwei Monaten war dieses Gefühl verflogen und die Realität zeigte mir deutlich, wo ich nun stand, nämlich am Rande der Gesellschaft. Morgens alle anderen zur Arbeit gehen zu sehen und selbst nicht mehr dazuzugehören, war schwer auszuhalten und die Verzweiflung darüber unfassbar groß. Die folgenden Jahre bestimmten der Schmerz, seine Begleiterscheinungen und die Frustration, kein normales Leben mehr zu haben.

Die Krankheit hat einen Namen

Ich leide unter Migräne, einer schweren Schmerzerkrankung, die in den Köpfen vieler Menschen keine ernstzunehmende Erkrankung ist. All diesen Skeptikern würde ich gerne einmal die Erfahrung zuteil werden lassen, nur vier Wochen ihres Lebens mit dieser Erkrankung zu leben und alles aushalten zu müssen, was sie mit sich bringt, bis hin zum Verlust der Arbeit, des sozialen Lebens und der gesellschaftlichen Stigmatisierung. Ich bin sicher, nach diesen vier Wochen würden sie ihrem Schöpfer auf Knien dafür danken, ihr altes Leben zurückzubekommen.

Eine Erkrankung zu haben, die gesellschaftlich kaum akzeptiert wird, erschwert unser Leben zusätzlich. Ich spreche deshalb immer häufiger von chronischen Schmerzen und nicht von Migräne. Denn nennt man die Schmerzerkrankung bei ihrem bekannten Namen, verändert sich die Einstellung des Zuhörenden oft schlagartig vom wohlwollend Zugewandten zum skeptisch Bewertenden, der mit aberwitzigen Ratschlägen daherkommt.

Dieses Schicksal teile ich mit ungefähr acht Millionen betroffenen Menschen in Deutschland.

Es ist an der Zeit, dass sich die gesellschaftliche Bewertung ändert und die Migräne als eigenständige und schwere Schmerzerkrankung akzeptiert wird.

Denn:

Migräne ist keine psychische Erkrankung!

Migräniker sind nicht selber Schuld an ihrer Erkrankung!

Migräniker sind nicht schwach oder disziplinlos!

Im Gegenteil, es müssen starke Menschen sein, die diese Schmerzen aushalten, die nicht aufgeben, obwohl ihnen oft danach zumute ist und alles für Familie und Beruf geben, was sie noch an Kraft zur Verfügung haben, häufig bis zur totalen Erschöpfung.

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