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Leben mit Borderline "Ich hatte lange keine Ahnung, wer ich bin"

Winni Modesto
Winni Modesto
© privat
Die Berlinerin Winni Modesto, 37, leidet an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Hier erzählt sie, wie sie gelernt hat, mit ihrer Erkrankung zu leben.

Trigger-Warnung:

In diesem Artikel werden Themen wie Alkoholismus und Suizid angesprochen. Diese Inhalte können für manche Menschen belastend und/ oder re-traumatisierend sein.

Als Dreijährige kam ich mit meiner Familie vom Sudan nach Berlin. Schon aufgrund meiner Hautfarbe hatte ich das Gefühl, nicht ganz dazuzugehören. Genau dieses "Dazugehören" war aber mein größter Wunsch, der sich durch mein ganzes Leben ziehen sollte. Es war, als wollte ich mein Äußeres, meine Hautfarbe, mein krauses Haar und alles, was "anders" an mir war, mit meinem Verhalten ausgleichen. Ich passte mich an und tat alles, wovon ich glaubte, dass andere es von mir erwarteten.

Eine Gefühlswelt ohne Grautöne

Auch beim Erwachsenwerden war ich darauf programmiert, anderen Menschen zu gefallen. So sehr, dass ich irgendwann nicht mehr wusste, welche Identität meine eigene war. Jede:r kennt das wohl aus seiner Pubertät, aber diese innere Zerrissenheit sollte mich nicht mehr loslassen:

Ich nahm mich selbst entweder als wertlose Versagerin wahr oder als Überfliegerin, die zu Großem bestimmt war.

Oft war mein Selbstbild an Leistungen gekoppelt. In meinem Elternhaus hatte ich früh gelernt, dass mein Wert daran gemessen wird, welche Erfolge ich erbringe. In manchen Phasen traute ich mir alles zu, aber meistens fühlte ich mich dumm und ungenügend. In meiner Gefühlswelt gab es zwischen Schwarz und Weiß keine Grautöne. Wenn ich mich über andere Menschen ärgerte, konnte das in eine unsagbare Wut ausarten, so dass ich Freundschaften oder Beziehungen von heute auf morgen beendete.

Im Gespräch mit einem meiner unzähligen Ex-Partner stolperte ich das erste Mal über den Begriff "Borderline". Er erzählte mir, dass er mal mit einer Borderlinerin zusammen gewesen war, und dass ihn diese Erfahrung nachhaltig verunsicherte. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, was das wirklich bedeutete. Doch schon bei meiner ersten Internetrecherche erkannte ich mich in erschreckendem Maß wieder. Vor allem in Phasen, in denen es mir schlecht ging, beschäftigte ich mich intensiv mit der Krankheit. Aber auf schlechte Phasen folgten immer wieder gute und ich legte das Thema beiseite. Dass auch das charakteristisch für Borderline ist, wusste ich damals noch nicht.

Andere ahnten nichts von meinen Problemen

Auch das zeichnet Borderliner:innen aus: Sie können sehr gut überspielen, was in ihnen vorgeht. Und in so einer Borderline-Seele geht ganz besonders viel vor: Trauer, Wut, Euphorie, Ängste, Scham – von Himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt. Oft fühle ich mich wie ein verletztes Kind, das sich am liebsten auf den Boden werfen würde. Jeder kennt das, wenn es in einem brodelt und sich ein Gefühl aufschaukelt. Bei mir ist es dann immer gleich ein sehr extremes Gefühl.

Das alles macht Beziehungen unheimlich schwierig – egal, ob Freundschaften, romantische Beziehungen oder familiäre Verbindungen. Es ist wie ein Abhängigsein von der Meinung anderer. Ich sehe andere Menschen und meine, genau erspüren zu können, was sie sich von mir wünschen. Dann verhalte ich mich nach deren vermeintlichen Erwartungen und werde genau diese Person. Doch sobald es einen Konflikt gibt oder ich mich über jemanden ärgere, kann ich nichts Positives mehr an der Person sehen. So können die engsten Freundschaften von heute auf morgen kaputtgehen.

Ich begann, zu trinken

Nur unter Alkoholeinfluss habe ich es geschafft, selbstbewusst zu sein. Betrunken spürte ich meine Unsicherheiten nicht mehr und konnte mich so verhalten, wie ich gern gewesen wäre – es war wie ein Befreiungsschlag vom Angepasstsein. Aus einer geselligen Trinkgewohnheit wurde schließlich Sucht und aus der Wut gegen mich selbst ein Suizidversuch. Als ich anschließend stationär in einer psychiatrischen Einrichtung aufgenommen wurde, bekam mein Anderssein endlich einen offiziellen Namen: Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS).

Einmal wurde ich als "austherapiert" weggeschickt

Da war ich Anfang 30 und hatte noch keine:n einzige:n Therapeut:in gesehen. Die vielen Therapien, die ich von da an ausprobierte, scheiterten daran, dass die Therapeut:innen mein Verhalten nicht richtig interpretieren konnten. Denn auch in den Sitzungen war ich die "Vorzeige-Winni", präsentierte mich als glücklichen Menschen und wurde vorzeitig als "austherapiert" nach Hause geschickt. Was bei mir ankam, war ein schmerzhaftes Abgewiesenwerden. Leider sind nur wenige Therapeut:innen speziell für Borderline-Patient:innen ausgebildet.

Schließlich wurde ich über das Internet auf eine Studie aufmerksam, in der eine neue, digitale Therapie getestet werden sollte. Ich wurde in das Programm "priovi“ aufgenommen und lernte in der gleichnamigen App die virtuellen Borderliner:innen Lea und Pia kennen. Die beiden Figuren nehmen mich bis heute mit auf die Reise in mein Inneres, denn sie fühlen wie ich. Mit ihren empathischen, nicht bevormundenden Tipps lerne ich jeden Tag, warum ich mich so verhalte, wie ich es tue. So kann ich immer besser einordnen, in welchem "Schema" ich mich gerade befinde. Sobald ich das Brodeln in mir bemerke, unterbreche ich, was ich tue, und kümmere mich darum, was gerade in mir geschieht und was mir guttut. In Konfliktsituationen werde ich dabei unterstützt, eine erwachsene Entscheidung zu treffen, die nicht aus dem Affekt kommt.

Heute kann ich meiner Störung Paroli bieten

Inzwischen kann ich mir diese "digitale Gesundheitsanwendung" (DiGA) von meinem Arzt verschreiben lassen. Ich weiß, dass ich dort immer Übungen finde und etwas nachschlagen kann. Per SMS werde ich daran erinnert, etwas für mich zu tun oder mich an einen Ort zu imaginieren, an dem ich mich geborgen fühle. Das Programm ersetzt keine Therapien und hat auch nicht den Anspruch, das zu tun. Es ist aber eine ideale Ergänzung zu den Therapiesitzungen.

Heute bin ich auf einem guten Weg, bin schon seit längerem nüchtern und besuche Gruppentherapien. Immer noch erlebe ich Krisen, die mich aus der Bahn werfen. Aber die Gewissheit, dass ich der Störung Paroli bieten und mich gezielt reflektieren kann – und das nicht nur in Therapiesitzungen, sondern auch auf digitalem Weg – gibt mir Halt. Und es ist mir eine Herzensangelegenheit, allen Betroffenen die Sicherheit mitzugeben, dass Borderline heutzutage sehr gut therapierbar ist. Es bleibt eine schwierige Reise, aber je mehr Menschen davon erfahren, was Borderline wirklich ist, umso besser kann Betroffenen geholfen werden.

Die Autorin: Winni Modesto, 37, lebt in Berlin. Ihr Ziel ist es, über die Borderline-Störung aufzuklären und sowohl Betroffene als auch deren Angehörige und Freund:innen zu ermutigen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ihre Erfahrungen rund um die Themen Identität und Zugehörigkeit verarbeitet Winni Modesto als Autorin von Gedichten und Kurzgeschichten.

Brigitte

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