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Magersucht, Missbrauch, Drogen "Und trotzdem lebe ich!“

Tina Gizella
© privat
BRIGITTE.de-Leserin Tina Gizella Klewin hat lange am Rande des Abgrunds gelebt. Heute geht es ihr gut - meistens zumindest.
Tina Gizella
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Mein Leben steckt in vielen bunten Schuhschachteln. Lange habe ich sie nicht mehr angeschaut. Warum? Mein Leben ist so vollgestopft mit Arbeit und Terminen, dass ich nicht zur Ruhe komme. Nun zwang mich eine Operation zur Ruhe und zum ersten Mal nahm ich meine Schuhschachteln wieder zur Hand.

Da fällt mir ein Foto in die Hände, das vor 18 Jahren gemacht wurde: Meine Arme so dünn wie Striche, die Beine versunken im Stuhl. 41 Kilo bei 1,67 Metern. Magersucht. Bei mir ging es damals nicht ums dünn werden, schlank war ich schon immer. Aber ich fühlte mich nie wertvoll. Alle waren dünner, besser und wertvoller.

Wertvoll! Ein so wichtiges Wort! Seinen eigenen Wert kennen und auch zu sich selbst zu stehen, das brauchte bei mir lange. Gut 20 Jahre.

Ich blicke zurück auf einen langen, steinigen Weg und trotzdem hielt mich etwas fest am Leben. Mein Wille zu leben! Der kam aber erst, nachdem ich körperlich und seelisch am Ende war.

Wir landeten im Frauenhaus

Ich hatte eine schwere Kindheit. Mein Vater war ein angesehener Mann, er war Werbegrafiker, hatte gute Aufträge, ein tolles Auto, ein tolles Haus und meine Mutter an seiner Seite, eine schöne ungarische Frau. Doch leider überschattete ein Gehirntumor sein Leben. Nach der OP war er nicht mehr derselbe, und er nahm seine Tabletten mit Alkohol. Ich weiß nicht, wie oft ich als kleines Kind dazwischen ging, wenn er auf meine Mutter einschlug, während meine Schwester sich übergab. Nach dem dritten Mal, wo es so heftig war, dass meine Mutter einen gebrochenen Arm hatte, landeten wir im Frauenhaus und gingen nicht mehr zurück.

Unser neues Zuhause war eine kleine Wohnung, meine Mutter völlig überfordert, sie trank und ich hatte viel Angst - es gab nichts Stabiles in meinem Leben. Weiter ging es für uns in eine andere Stadt, wo wir bei unserem neuen Stiefvater einzogen. Mit 13 Jahren dann der große Schock, als wir bei meinem Vater zu Besuch waren: Suizidversuch, Notarzt, Rettungsdienst. Wie konnte er uns das antun? Es hatte nicht geklappt, aber das Vertrauen war weg. Er wäre einfach so gegangen - ohne uns.

Ich begann wieder zu tanzen

Tanz war immer etwas, das mich in eine eigene Welt versinken ließ. Die Topmodels Cindy Crawford, Claudia Schiffer und Co. waren in meiner Zeit Vorbilder, ich wollte auch so sein wie sie, schlank und schön. Also begann ich schon da, auf mein Gewicht zu achten. 52 Kilo, mehr sollte es nicht werden. Mein Gewicht gehörte mir, ich hatte endlich in meinem instabilen Leben eine Kontrolle. Etwas, das mir gehörte.

Dann mit 17 Jahren die verhängnisvolle Party. Er fiel mir den ganzen Abend schon unangenehm auf, seine Blicke durchbohrten mich, er machte mir Angst. Irgendwann war ich zu müde und legte mich ins Bett, während die anderen oben feierten. Als ich wieder aufwachte, spürte ich den Atem hinter mir, die Hände, und dass auf einmal von hinten etwas in mich eindrang. Ich war wie erstarrt, wie eingefroren, der Atem stockte mir fast, nein, nein, das wollte ich nicht. Es war irgendwann vorbei, und ich weiß nicht mehr, wie lange ich völlig geschockt im Badezimmer saß und immer wieder dachte: Was war da passiert!? Als meine Freundin sich neben mich setzte, und ich unter Tränen immer wieder sagte: „Ich wollte das nicht!“, kam von ihr nur der Satz: „Das ist normal, sowas passiert doch fast jeder Frau“. Seitdem frage ich mich oft, wie sie sowas sagen konnte.

Dann fing ich an, gegen mich selbst zu kämpfen

Einige Wochen später fasste ich den Mut, ging zu einer Lehrerin und erzählte ihr unter Tränen den Vorfall. Doch anstatt mich zu unterstützen, sagte sie: „Tja Tina, wenn man sich in solchen Kreisen rumtreibt, dann muss man sich nicht wundern, dass einem sowas passiert!“ Nach diesem Satz ging es bergab: Ich war selbst schuld, ich war nichts wert und so begann mein Kampf gegen mich selbst.

Ich erstellte mir einen straffen Essensplan. Hunger durfte ich nicht zulassen, ich musste ihn besiegen. Die Waage zeigte 45 Kilo. Doch die anderen waren dünner, schöner, wertvoller. Zusätzlich begann ich zu rauchen, das bekämpfte das Hungergefühl. 43 Kilo - ich kam meinem Ziel näher.

Immer wieder kam ich in die Klinik

Mittlerweile waren aber die Schule und meine Mutter informiert. Als ich das erste Mal beim Arzt saß und er das Wort Magersucht sagte, dachte ich nur, was will der jetzt von mir!? „Sie muss in eine Klinik“, sagte er. Dort musste ich jede Woche 400 Gramm zunehmen. Wie konnten sie mir das antun? Ich aß meine Zwangsmahlzeiten wie vorgeschrieben und nahm zu. Ich hasste meinen Körper, der jeden Tag fetter und aufgequollener wurde. Das Essen fühlte sich schlecht an, eklig, ich hatte es nicht verdient und kotzte es wieder aus. Doch die Therapeuten verordneten mir nach dem Essen ein Toilettenverbot. So musste ich 2,5 Stunden mit ihnen im Raum sitzen und die Nahrung verdauen lassen.

Als ich 48 Kilo erreicht hatte, durfte ich immerhin eine Stunde in der Woche in die Stadt. Ich fand eine neue Freundin, die genauso drauf war wie ich. Zusammen kauften wir Berge an Essen, stopften alles rein und kotzten es am Ende wieder aus. Dazu kamen Mengen an Alkohol. Das Ganze ging nicht lange gut, ich musste die Klinik verlassen: "Nicht therapierbar" stand auf dem Entlassungsbrief.

Doch der Teufelskreis ging weiter. Ich kam immer wieder in Kliniken, wurde gezwungen zuzunehmen. Ich machte brav mit, damit ich wenigstens mein Zimmer verlassen durfte. Ich suchte mir andere Wege, um mit dem Druck klarzukommen. Ich ritzte mir die Arme auf. Druck ablassen, Schmerz spüren, mich wieder fühlen, aber am Ende blieb Leere.

Ich schoss mich weg - mit Ecstasy, LSD, Kokain, Heroin

Tanzen konnte ich nicht mehr, ich hatte seit dieser grauenhaften Nacht das Gespür für meinen Körper verloren. Ich hatte neue Freunde gefunden, die mir wunderbare Pillen gaben, mit denen man auf Wolke Sieben schwebte. Ich war 4 bis 5 Nächte lang wach, irgendwann wurden es 7 Tage. Ecstasy, LSD, Kokain - was nahm ich alles, um nichts mehr von der realen Welt mitzubekommen. Doch ich brauchte immer mehr, denn mein Körper stumpfte ab.

Ich hatte keinen Appetit mehr, es war wunderbar, ich kam meinem Zielgewicht unter 40 Kilo immer näher. Doch leider ging es mir auch immer schlechter, ich bekam Depressionen, sah im Leben keinen Sinn mehr, schnupfte Heroin, was aber auch irgendwann keinen Kick mehr hervorrief. Ich weiß nicht, ob es der Arzt war, der mir massiv ins Gewissen redete, oder doch dieser Unfall, der uns alle so erschreckte.

Es war völlig normal, dass wir unter Alkohol- oder Drogeneinfluss Auto fuhren. Es war mitten auf der Bundesstraße, als wir zu zwei brennenden Autos kamen, die frontal ineinander geknallt waren kamen. Wir hörten Schreie, Öl lief aus, wir rannten hin. Ein Baby schrie in diesem Auto, Blut überall. Die Unfallverursacherin war betrunken. Das war ein furchtbarer Schlag ins Gesicht für uns.

Zum ersten Mal war das Leben keine Party mehr

Ich wollte versuchen, was aus meinem Leben zu machen. Ich hatte einen tollen Hausarzt, bekam eine gute Therapeutin und einen festen Lebensplan. Essensplan, Blutkontrollen, jede Woche wiegen. Die Regeln waren klar. Keine erneute Abnahme, ich durfte nicht unter 40 Kilo kommen. Keine Drogen, keinen Alkohol, dafür den Schulabschluss nachholen. Und sobald ich die 45 Kilo erreichte, einmal in der Woche Ballett. 

Meine Schule holte ich nach und ging zum Ballett. Natürlich war es nicht leicht, der Blick in den Spiegel erzeugte immer wieder Wut, denn ich fand mich fett. Aber ich hatte endlich was, wofür ich kämpfe wollte. Mit 20 Jahren musste ich endlich entscheiden, was ich beruflich machen wollte. Tanzen!

Ich machte eine Ausbildung zur Tanzpädagogin

Ich nahm allen Mut zusammen, ging zum Vortanzen und durfte eine Ausbildung zur Bühnentänzerin und Tanzpädagogin beginnen. Ich begann zu unterrichten, hatte Auftritte und Vorführungen. Langsam fand ich mich selbst. Mein Gewicht schwankte zwischen 50 und 45 Kilo, es war ein andauernder Kampf.

Die Kinder und Jugendlichen kamen gern zu mir, ich tanzte in einer Showtanzgruppe und leitete eine Musical Company. Ich wurde für etwas gebraucht. Zum ersten Mal konnte ich was und das war nicht hungern, gegen sich kämpfen, sondern für sich kämpfen.

Trotzdem war ich allein, Nähe machte mir Angst. In schwierigen Momenten, wenn die Angst in der Nacht kam, wenn die Leere groß war, waren der Alkohol und meine vertraute Freundin, die Magersucht, da. Sie gaben mir immer wieder Halt. Ich wollte das aber nicht mehr. So machte ich nochmals eine Therapie und holte mir Hilfe beim Frauennotruf.

Seit vielen Jahren bin ich stabil, ich wiege 53 Kilo, manchmal auch mehr. Ich habe mein eigenes Ballettstudio, die Poledance Academy in Augsburg, und ich freue mich jeden Tag, meine kleinen und großen Tänzerinnen zu sehen. Ich möchte sie stark machen, ihnen durch den Tanz zeigen, dass sie einzigartig, schön und wertvoll sind.

Ich habe es geschafft!

Auf mich achten, mich selbst schätzen, das kann ich heute. Natürlich gibt es Rückschläge in meinem Leben, und wenn ich ehrlich bin, denke ich oft, es wäre leicht, auf die alten Hilfsmittel zurückzugreifen, um zu vergessen, um für einige Momente frei zu sein. Aber was würde ich alles verlieren! Dafür ist mir mein Leben heute zu wertvoll, es ist schön, wie es ist.

Deshalb ist es mir so wichtig, das an andere Frauen weiterzugeben: Du kannst es schaffen! Gib nicht auf! Jede Süchtige, egal welche Sucht, weiß, dass ihr etwas fehlt. Wir können uns ewig davor verstecken, es weghungern oder wegtrinken, aber am Ende gewinnt immer die Sucht.

Aber das Leben hat viel zu bieten. Ich schaue auf meine Schuhschachteln. 20 Jahre habe ich gebraucht, um stark zu werden.

Magersucht, Missbrauch, Drogen: "Und trotzdem lebe ich!“
© Tribus Verlag

TippTina Gizella Klewin hat ein Buch über ihr Leben geschrieben: "Herz sucht Mut - Seele sucht Halt" (Tribus Verlag, 15,90 Euro)

Brigitte

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