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Wie es ist, von den Eltern nicht gesehen zu werden

Wie es ist, von den Eltern nicht gesehen zu werden
© Denis Rozhnovsky / Shutterstock
BRIGITTE-Leserin Cornelia F. (Name geändert) weiß, was es mit Kindern macht, wenn sie von den eigenen Eltern nicht gesehen werden. Sie selbst hat darüber triumphiert.

Ich fühlte mich nicht erkannt und des Erkennens nicht wert

"Wenn keiner mich sieht, wenn keiner da ist, der mich sehen will...", schrieb ich einmal selbstversunken während einer Unterrichtsstunde. Und ich erinnere mich, wie ich den Blick meines Lehrers spürte, der hinter mir stand und meine Zeilen las. Aber auch er sah nur die Worte auf dem Papier.

Damals wusste ich nicht, was sie wirklich bedeuten, diese Sätze, und welche Tragweite sie haben, ich schrieb sie einfach.

Jetzt spüre ich, dass sie Ausdruck eines tiefen Gefühls waren, das mich lange Zeit meines Lebens begleitete. Ich fühlte mich nicht erkannt und des Erkennens nicht wert.

Rückblickend weiß ich, es war die Verzweiflung eines Kindes darüber, dass niemand da war, der sehen konnte oder wollte, wer es ist und was es kann.

Der Mensch erinnert sich an starke Gefühle und an Worte, die durch Mark und Bein gehen, und die sich letztendlich einbrennen. "Aus dir wird sowieso nie was!", war der Satz, der, oft ausgesprochen, zu meinem inneren Mantra wurde.

Ich wurde zum "Problemkind"

Ich war ein Problemkind - aufmüpfig, griesgrämig, lernresistent und aggressiv. Heute weiß ich, ich war so, weil ich diesen Satz glaubte, ich hatte ihn verinnerlicht und wurde meiner Rolle mehr als gerecht.

Meine Eltern, beide vielbeschäftigt ohne Zeit und Leidenschaft für ihre Kinder, ließen sich scheiden, kurz bevor ich auf die weiterführende Schule wechseln sollte.

Ich bekam eine Empfehlung für die Hauptschule und meine Eltern nutzten die Gelegenheit, um mich loszuwerden und auf ein Internat zu schicken - ein Problem weniger für sie. So empfand ich es, als ich zehn Jahre alt war.

Nach vier Jahren musste ich das Internat ohne Abschluss verlassen, weil ich nicht "gemeinschaftsfähig" sei und mich "nicht regelkonform" verhalten hätte, hieß es als Begründung.

Mein Klassenlehrer sagte mir, dass er stolz auf mich ist

Von einem auf den anderen Tag lernte ich, dort zu funktionieren, wo ich eigentlich hingehörte - auf die Hauptschule in meinem Heimatort. Es war mein Klassenlehrer, der mir zum ersten Mal sagte, dass er stolz auf mich ist, und der meinen Aufsatz zum Thema "Was ich einmal werden will" den anderen Schülern als positives Beispiel vorlegte. Zum ersten Mal fühlte ich, dass da jemand ist, der mich sieht. Doch das reichte nicht.

Ich schloss die Hauptschule ab und wechselte auf die Berufsfachschule für Wirtschaft, obwohl mir Wirtschaft nicht lag. Wie wenig kennt man sich selbst, wenn man nie in seinen Fähigkeiten bestärkt wurde?

Ich floh in eine Parallelwelt

Es waren schließlich die vermeintlich "falschen Freunde", denen ich mich anschloss und aufgrund derer ich nur noch für das Wochenende lebte. Ich floh in eine Parallelwelt, in der ich gesehen wurde - mein inneres Leuchten und die unbändige Kraft, die sich aller Umstände zum Trotz ihren Weg bahnen wollte. Ich fühlte mich von Menschen, die mir etwas bedeuteten, angenommen und gemocht, unabhängig von meinen Fähigkeiten - zum ersten Mal.

Diese Erfahrungen brachten mich ein Stück näher zu mir. Aber sie brachten mich nur bedingt weiter auf dem Weg zu der, die ich sein wollte. Die Wochenenden im Rausch führten letztendlich dazu, dass ich auch die Berufsfachschule ohne Abschluss verließ.

Ich begann mehr aus Pflichtgefühl denn aus Leidenschaft eine Ausbildung zur Fotografin. Und wieder traf ich einen Menschen, der mich sah. Der mich nicht aufgrund von Qualifikationen einstellte, sondern der erkannte, dass in mir etwas ist, das sich zu kultivieren lohnt. Der mir Mut machte und mir zeigte, dass ich gut bin, so wie ich bin.

Und ich verstand immer mehr: Ich bin mehr als meine Erfahrungen, ich bin mehr als das, was ich zu sein glaube, ich bin mehr als das, was mir immer gesagt wurde.

Ich spürte, dass das Leben eine Aufgabe für mich hat

Ich erlangte durch meinen Berufsabschluss die Mittlere Reife und wagte endlich von dem zu träumen, von dem ich nie zu träumen gewagt hatte: Ich wollte das Abitur machen und studieren.

Ich zog nach Köln, holte das Abitur ohne große Anstrengung nach und entschloss mich auf Anraten meiner damaligen Deutschlehrerin dazu, Germanistik zu studieren. Ich schloss das Studium der Germanistik, Philosophie und Medien schließlich als eine der Besten des Jahrgangs ab und begann, im Journalismus zu arbeiten.

Doch ich erkannte bald, dass dies nicht mein Weg war, denn die Sehnsucht, die mich zu dieser Entscheidung trieb, war, endlich gesehen zu werden. Von meinen Eltern und von den Lehrern, die nur schlechte Prognosen für mich hatten.

Wie stolz war ich, als ich zum ersten Mal in einem Fernsehbeitrag erwähnt wurde! Aber mein Vater war nur stolz auf SEINE Tochter, nicht auf die, die ich war. Er hat mich nicht ein einziges Mal besucht.

Von heute auf morgen hörte ich mit dem Job auf, ohne zu wissen, wohin mich mein Weg führen sollte. Doch langsam begann ich, mich unter all den falschen Vorstellungen und Sehnsüchten selbst zu erkennen.

Ich studierte noch einmal, diesmal Lehramt, weil ich spürte, dass das Leben eine Aufgabe für mich bereithielt. Ungeplant bekam ich während des Studiums eine Tochter.

Ich habe meine Erfüllung gefunden

Heute arbeite ich an einer Grundschule in einem Brennpunktviertel. Mit Kindern, die auch nicht gesehen werden. Es macht mich glücklich und zufrieden, Kräfte und Potenziale in unerkannten, kleinen Persönlichkeiten zu entdecken und diesen vernachlässigten Kindern zu helfen, ihren inneren Schatz zu sehen und ihren Weg zu finden.

Meine Aufgabe ist, das weiß ich jetzt, das Leuchten zu sehen, wenn kein anderer es sieht oder sehen will.

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