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"Die Angststörung hat mein Leben ruiniert - und mich gerettet"

BRIGITTE.de-Leserin Julia hat eine Angststörung. Hier spricht sie darüber, was das wirklich bedeutet - und wie sie gelernt hat, sich der Angst zu stellen.

Darf ich mich vorstellen?

Julia (25) lebt in Berlin. Sie studiert Journalismus und arbeitet als Redakteurin für ein Beauty-Magazin. Schreiben ist ihre große Leidenschaft, weil es ihr hilft, das Leben zu verarbeiten, wie sie sagt.
Julia (25) lebt in Berlin. Sie studiert Journalismus und arbeitet als Redakteurin für ein Beauty-Magazin. Schreiben ist ihre große Leidenschaft, weil es ihr hilft, das Leben zu verarbeiten, wie sie sagt.
© privat

Ich bin Julia, 25 Jahre alt, Studentin, lebenslustig und immer für einen Spaß zu haben.

Darf ich mich ehrlich vorstellen?

Ich bin Julia, 25 Jahre alt, habe eine Angststörung und Depressionen.

Nein, ich darf mich nie ehrlich vorstellen.

Denn dann sehe ich sie, die mitleidigen Blicke. Ich spüre die Unsicherheit, mit der mir die Menschen begegnen und die Ausreden, die sie suchen, um nicht mit mir in Kontakt zu kommen.

Deshalb stelle ich mich nie ehrlich vor - bis jetzt.

Die Angst kam zuerst schleichend und zeigte sich dann mit aller Kraft. Zu Beginn waren es nur kleinere Attacken, mit einem Schwächeanfall oder einer Magenverstimmung zu vergleichen - dann wurde es schlimmer, und mit der Zeit war ich nur noch ein Schatten meiner Selbst. Ein Schatten, der zu schwach war, um den Lebenden zu folgen.

Ich verlor den Kontakt zur Außenwelt

Das Verhängnisvolle bei einer Angststörung ist, dass dieses Wort nicht im Geringsten ausdrückt, was wirklich passiert. Meine Angst ist nicht vergleichbar mit der Angst vor einer Spinne oder vor einer schwierigen Situation. Ich habe nackte Todesangst und das in alltäglichen Situationen.

Zu Beginn wurde mir nur übel und schwindelig, wenn ich das Haus verließ. Später brach ich in Geschäften oder im Fitnessstudio zusammen. Und dann endete mein Leben. Im Studium musste ich pausieren, meine Wohnung musste ich aufgeben. Ich konnte nicht mehr das Haus verlassen, zog wieder zu meiner Mutter und hatte keinen Kontakt zur Außenwelt.

Psychologe und Selbsthilfegruppe - das war mein Leben

Die Angst packte mich mit voller Macht und zog mich aus dem Licht in den Schatten. Es gab Tage, in denen ich so schlimme Schmerzen hatte, dass ich das Bett nicht verlassen konnte. Die unglaublich vielen Symptome der Angststörung – Übelkeit, Schwindel, Zittern, Herzrasen, Taubheit, Überforderung, Atemnot – ich nahm sie alle mit.

Eine ganz gewöhnliche Panikattacke, wie sie bei der Angststörung vorkommt, dauert ungefähr 30 Minuten. Ich hatte täglich drei bis sieben von ihnen. Danach war ich schwach und ausgelaugt.

Der Kampf gegen meinen Körper lähmte mich, und ich fiel in tiefe Depressionen. Wenn ich mir nicht mehr vertrauen konnte, wem dann? Wieso kämpft mein Körper gegen mich? Und wie konnte das alles überhaupt passieren?

Ich begann mich zu hassen und fühlte mich unsichtbar. Ich war zu schwach, um mit Menschen zu reden, zu schwach, um jeden Tag zu kämpfen und zu schwach, mein Leben zu führen.

Meine Tage und Wochen bestanden immer aus demselben Schema: Psychologe und Selbsthilfegruppe. Mehr hatte ich nicht. Mehr konnte ich nicht. Fast ein Jahr hatte ich nur zu diesen Menschen und zu meinen engsten Vertrauten Kontakt.

Ich wollte sterben

Dann war es soweit: Ich wollte sterben. Ich hasste diese Existenz und hatte meinen Überlebenssinn verloren. Das Leben machte keinen Sinn mehr. Meine Existenz bestand nur noch aus Angst, Trauer und Hass. Nur meine Lieben hielten mich am Leben. Ich wusste, dass ich auch ihre Leben auslöschte, wenn ich meines beendete.

Also versuchte ich, zu kämpfen. Auch wenn ich nicht wusste, wofür.

Aber ich hatte meine Erinnerungen. Ich hatte früher einmal gelacht. Ich war schon mal glücklich gewesen. Also kämpfte ich dafür, dass ich wieder dorthin gelangte. Und sei es nur für einen Tag.

Wo ist das Glück, das ich früher empfinden konnte?

Mit meinem Psychologen arbeitete ich daran, über meine Grenzen zu gehen. Ich ging jeden Tag raus, immer ein bisschen mehr, und versuchte, mein Gehirn neu zu programmieren. Alles hatte seinen Grund, auch jede Panikattacke. Ich begann, mir täglich kleine Ziele zu setzten. Ich fotografierte Dinge, die mich früher einmal glücklich gemacht hatten, in der Hoffnung, das Gefühl noch einmal zu spüren.

Ich wurde schonungslos ehrlich zu mir und meiner Umgebung. Kannten meine Lieben meine innersten Gedanken, konnten sie besser mit mir umgehen und waren nicht mehr so ratlos. Und ich hatte nicht mehr das Gefühl, mich verstecken zu müssen.

Zwei Jahre lang habe ich täglich gekämpft, erlebte Tiefen und Zusammenbrüche. Aber ich schaffte kleine Ziele. Nach ungefähr einem Jahr konnte ich das erste Mal wieder mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren und habe vor Freude geweint.

Ich liebe jeden Moment, der ohne Angst ist

Irgendwann habe ich wieder begonnen, so etwas wie ein Leben zu führen. Ich hatte mir eine neue Persönlichkeit geschaffen, denn das war unvermeidlich, um nicht in alte Muster zu fallen. Ich lernte auf dem wahrscheinlich schlimmsten Weg von allen – dem der Konfrontation –, wie ich mit meinem neuen Ich umgehen konnte. Die Angst ist ein Teil von mir, ein Monster, das mich immer mal wieder in seinen Bann zieht. Aber die Angst hat mich auch gelehrt, ich zu sein und das mit allen Konsequenzen.

Nach zwei Jahren der Isolation und des Kampfes begann ich langsam, wieder zu arbeiten. Ich versuchte, mein Studium zu beenden und mir eine Existenz aufzubauen.

Jetzt bin ich wieder glücklich. Wahrscheinlich glücklicher denn je. Auch weil ich nicht mehr an meine Zukunft denke. Ich liebe jeden Moment, der ohne Angst ist. Ich liebe es, in andere Städte zu reisen und ich liebe es, jeden Morgen ohne Schmerzen aus dem Haus zu gehen.

Ich habe zu mir gefunden

Doch es wäre gelogen, wenn ich jetzt sagen würde, dass die Angst nicht mehr existiert. Sie ist zu meinem Schatten geworden. Ich muss auf mich achten und habe immer wieder Angst. In einer guten Woche komme ich mit einer Panikattacke aus, in einer schlechten Woche begleitet mich die Angst täglich.

In den fast drei Jahren meiner Krankheit habe ich nicht nur ein Leben und mich selbst verloren. Noch immer habe ich keinen selbstverständlichen Überlebenssinn. Aber ich nehme das Leben leichter, weil ich weiß, dass es nicht so bedeutend ist. Ich kann jederzeit sterben und das ist beruhigend.

Und ich habe in den Jahren meiner Krankheit etwas unglaublich Schönes gefunden: Mich!

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