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Legasthenie "Ich war das Dummerchen - heute schreibe ich Romane"

Legasthenie: Sigrun Misselhorn
Sigrun Misselhorn, 56, geht heute offensiv mit ihrer Legasthenie um – und schreibt sogar Romane
© Filine Fink / Brigitte
Sie war eine Enttäuschung für ihre Mutter, ein hoffnungsloser Fall für die Lehrer. Erst als Erwachsene verstand Sigrun Misselhorn, dass sie Legasthenie hat.

Schon wenn unser Lehrer mit den Diktatheften in die Klasse kam, krampfte sich alles in mir zusammen. Die Kinder mit den sehr guten Diktaten bekamen ihre Hefte zuerst zurück. Das letzte Heft, das mit der Fünf oder Sechs, landete jede Woche auf dem Tisch der Klassenversagerin, begleitet von vorwurfsvollem Schweigen oder ratlosem Seufzen. Es war mein Heft.

Ich war das Dummerchen

Wegen der immer gleichen Prozedur wussten meine Mitschüler auch ohne Worte Bescheid: Ich war das Dummerchen, die mit dem Buchstabenchaos, die kaum ein Wort korrekt schreiben konnte. Ich wurde ausgelacht, stand auf dem Pausenhof allein. Dass meine Probleme eine medizinische Ursache hatten, zumal ich mündlich sehr gut war, ahnten weder meine Lehrer noch meine Eltern.

Scham ist das prägende Gefühl meiner Kindheit. Und Angst.

Statt nachmittags zu spielen, saß ich Stunden am Schreibtisch und verbesserte meine Diktate. Weil ich mir trotz aller Anstrengungen keine Buchstabenreihenfolgen merken konnte, waren auch die Verbesserungen meistens falsch. Und alles begann von vorn. Es war eine Qual, und es war mein Alltag.

Die zweite Klasse musste ich wiederholen. "Du kannst ja nicht mal lesen", spotteten meine Mitschüler. Und meine Mutter, ein Flüchtlingskind, dem die Chance auf eine akademische Laufbahn durch den Krieg verwehrt geblieben war, war enttäuscht: Ihre Tochter eine Sitzenbleiberin, die sich die Zukunft verbaute. Ich schämte mich.

Von Legasthenie hatte in den 70ern niemand etwas gehört

Scham ist das prägende Gefühl meiner Kindheit. Und Angst. Sonntags graute es mir vor der neuen Woche. Montags hatte ich häufig Migräne. Meine Seele schickte den Körper vor. Aber meine Mutter verstand den Zusammenhang nicht. Von Legasthenie hatte in den frühen 70ern kaum jemand etwas gehört. Und so schickte sie mich gegen den Rat der Lehrer aufs Gymnasium. Schließlich hatte ich beim IQ-Test gut abgeschnitten. Doch wieder versagte ich, musste eine Klasse wiederholen und wurde in die Realschule geschickt. Dort ließ der Druck nach, aber ich blieb Außenseiterin, schon weil ich als doppelte Sitzenbleiberin zwei Jahre älter war als meine Mitschüler.

James Dean hat mich gerettet

Meine Rettung kam im August 1980. Ich war 15 und schwärmte wie viele Gleichaltrige für James Dean. Sein Starschnitt hing lebensgroß an meiner Zimmertür. Meine Mutter kramte die Schmonzette "Giganten" aus dem Regal. Dass ich noch immer nicht lesen konnte, frustrierte mich wie nie zuvor. Jetzt oder nie, dachte ich.

Die Sommerferien hatten gerade begonnen, ich hatte unbegrenzt Zeit. Während Freunde und Familie in diesen Wochen fasziniert vor dem Fernseher saßen und die erstmals ausgestrahlte TV-Soap "Dallas" schauten, entzifferte ich im Garten Satz für Satz. Jede Seite kostete mich Stunden. Das war es mir wert. Am Ende der Ferien hatte ich mir das Lesen selbst beigebracht. Endlich! Aber bis heute muss ich mich stark konzentrieren und lese nicht wie andere Menschen mit Leichtigkeit mal eben nebenbei.

Natürlich traute mir nach der mittleren Reife niemand ein Studium zu. Bis auf mich selbst. Ich träumte von einem Job in der Werbung und schaffte es dank meiner guten Leistungen in Mathe und Physik tatsächlich auf die weiterführende Schule. Hier half mir im Deutschunterricht ein Trick: Ich riskierte so wenig falsch geschriebene Sätze wie möglich, indem ich alle Wörter, die ich nicht sicher fehlerfrei buchstabieren konnte, umschrieb. Meine Aufsätze waren blumig und ungewöhnlich lang, aber ich kam irgendwie durch.

Nicht mal mein Mann wusste von meiner Lese-Rechtschreibstörung

Ich schaffte das Fachabitur und fand einen Job in einer Werbeagentur. Wieder überlegte ich mir Strategien, um meine Schwäche zu verbergen. Bei Konferenzen legte ich mein Notizheft auf die Knie, sodass meine Tischnachbarn nicht mitlesen konnten, und schrieb sicherheitshalber so krakelig, dass niemand meine Notizen entziffern konnte. Wie raste mein Herz, wenn mein Chef neben meinem Schreibtisch auftauchte und mich bat, noch schnell Farbe und Größe handschriftlich auf einen Designentwurf zu schreiben. Meine Hände schwitzten, Panik kroch hoch: Jetzt werde ich enttarnt, jetzt merken alle, dass ich zu doof bin zum Schreiben.

In meinem Schreibtisch, vor den anderen versteckt, lag der Duden, in dem ich täglich mehrfach las. Später war bestimmt niemand so erleichtert wie ich über die Erfindung von Rechtschreibprogrammen im Computer. Weil ich nicht erklären konnte, warum mir das Lesen und Schreiben so schwerfiel, erzählte ich nicht einmal meinem Mann, den ich in der Fachoberschule kennenlernte, von meiner Not. Zumal er sich ein paarmal – ohne etwas von der Wirkung auf mich zu ahnen – über Rechtschreibfehler auf Postkarten von anderen lustig gemacht hatte. Auf keinen Fall wollte ich seine Wertschätzung verlieren.

Erst mit Mitte 30 erfuhr ich von meiner Legasthenie

Ich war Mitte 30, als ich eines Abends in eine Fernsehsendung zappte, in der ein älterer Professor über seinen Leidensweg als Legastheniker sprach. Er schilderte, wie niemand erkannte, dass er ein intelligentes Kind war und sich trotzdem keine Buchstabenfolgen merken konnte. Dass sein Gehirn ähnliche oder schnell aufeinanderfolgende visuelle Reize nicht aufnehmen oder unterscheiden könne. Und wie er bis heute dieselben Worte immer wieder unterschiedlich schreibe, und zwar meistens falsch, und deshalb jahrelang unter Versagensangst und Minderwertigkeitsgefühlen litt.

Ich konnte es nicht fassen. Der Professor beschrieb mein Leben. Und gab meinem Problem einen Namen: Ich hatte Legasthenie, kein Zweifel.

Ich war nicht dumm oder unnormal, ich gehörte einfach zu den fünf Prozent der Menschen in Deutschland, bei denen bestimmte Hirnareale beim Lesen und Schreiben nicht aktiviert sind.

Die Legasthenieforschung vergleicht unseren Zustand mit einem Haus, in dem einige Lampen nicht angeschlossen sind, sodass die Zimmer dunkel bleiben, selbst wenn man das Licht anknipst. Für uns Betroffene bleibt es dunkel. Als ich zufällig diese Fernsehsendung sah, war der Begriff Legasthenie gerade mal Fachleuten bekannt. Das ist heute anders. Doch immer noch werden Schulkinder mit extremen Problemen im Fach Deutsch viel zu selten auf Legasthenie geprüft, sodass ihnen die akademische Laufbahn verwehrt bleibt.

Heute schreibe ich Romane!

Irgendwann, da waren wir schon 15 Jahre zusammen, erzählte ich meinem Mann von meiner furchtbaren Kindheit und der selbst diagnostizierten Legasthenie. Bisher hatte ich mit niemandem darüber gesprochen. Er war fassungslos: "Warum sagst du das erst jetzt?" Weil ich mich so geschämt habe!

Bis heute gibt es Momente, in denen ich mich minderwertig fühle und mir der Schweiß ausbricht. Zum Beispiel, wenn ich in der Designfirma, die ich mit meinem Mann gegründet habe, unter Zeitdruck noch schnell einen Text schreiben muss. "Lass mich bitte allein!", sage ich dann. Ich ertrage es nicht, dass er ungeduldig auf mein mühsames Buchstabieren wartet.

Aber ich gehe heute offensiv mit meiner Schwäche um. Ich spreche über die Legasthenie. Und ich weiß, dass ich dieses Defizit beruflich ausgleichen kann, durch meine Kreativität, Kontaktfreudigkeit und Strukturiertheit. Es mag verrückt klingen, aber ich schreibe inzwischen nebenberuflich Romane. Warum ich mir das antue, obwohl es mich doch so viel Mut und Zeit kostet? Weil ich gern und gut erzähle, weil Schreiben mehr ist, als Buchstaben aneinanderzureihen – und weil ich mit den Jahren gelernt habe, dass es klüger ist, die eigenen Schwächen zu akzeptieren, statt sie zu verstecken.

Protokoll: Silia Wiebe Brigitte

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