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Leben mit Bulimie Wenn keiner ahnt, wie krank du bist

Andrea Ammann konnte sich aus ihrer Bulimie befreien – und hilft nun anderen Betroffenen
Andrea Ammann konnte sich aus ihrer Bulimie befreien – und hilft nun anderen Betroffenen
© privat
Fast 20 Jahre lang war Andrea Ammann, Mutter dreier Kinder, im Teufelskreis der Bulimie gefangen. Dann fand sie einen Ausweg aus der Sucht.

In diesem Artikel werden die Themen Bulimie, Vergewaltigung und Suizid angesprochen. Diese Inhalte können für manche Menschen belastend und/ oder re-traumatisierend sein.

Ich erinnere mich ganz genau an den Abend im Mai 2004. Ich sitze auf der Couch, in meinem Arm halte ich meine sechs Monate alte Tochter und stille sie. Ihre drei Jahre ältere Schwester sitzt am Boden, spielt mit ihren Puppen und singt friedlich vor sich hin. Nach außen wirkt diese Szene absolut verbunden, glücklich und umhüllt von Liebe und Geborgenheit. 

Mein Leben wurde von der Bulimie beherrscht

Es war ein Abend wie so viele andere. Ich hatte eben erst ein Kilo Brot – fett bestrichen mit 250 Gramm Butter und einem Glas Konfitüre – und 500 Gramm Schokoladenkekse in mich reingestopft. Um besser kotzen zu können, folgte noch ein Liter Eiscreme und wie immer ganz viel Wasser. Mein Leben war beherrscht von der Bulimie. Doch an diesem Abend sollte sich alles verändern. Ich war am Ende meiner Kräfte, total überfordert und absolut zerrissen in dieser Abhängigkeit rund um die Bulimie. Parallel dazu musste ich ein scheinbar perfektes Leben aufrechterhalten. An diesem Punkt war ich bereit, mein Leben zu beenden. 

Nach einer Vergewaltigung hatte ich zu essen aufgehört

Wie es dazu kam? Im Alter von 16 Jahren war mir durch eine Vergewaltigung von einem Augenblick zum anderen der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Nach dem ersten Schock, der tiefen Ohnmacht und dem großem Unverständnis über das Geschehene, hatte ich mir selbst die Schuld daran gegeben. Darüber gesprochen habe ich mit niemandem. Jeglicher Halt, jedes Vertrauen und vor allem jegliches Gefühl für mich selbst war in diesem Moment verloren gegangen. Ich wusste intuitiv, dass ich nicht Schuld daran hatte, fand aber keinen gesunden Weg, mit der Ohnmacht und dem Schmerz umzugehen. Stattdessen entschied ich mich dafür, kaum noch etwas zu essen. Damit wurde die emotionale Leere von der körperlichen Leere übertüncht. 

Bereits nach kurzer Zeit verlor ich massiv an Gewicht und wurde zu einer Ärztin zur Kontrolle geschickt. Der Fokus lag darauf, mein Gewicht nach oben zu bringen. Niemand kam auf die Idee, mich nach meiner Befindlichkeit zu fragen. Um diesem Druck möglichst schnell zu entkommen, begann ich wieder zu essen. Ich stopfte mich so voll, dass ich bereits nach ein paar Wochen wieder zu meinem Normalgewicht fand. Innerlich fühlte ich mich nach wie vor verletzt, wertlos, schuldig, schmutzig, leer und einsam. Doch nach außen schien mein Plan aufzugehen und die Ärztin war zufrieden mit mir! Als logische Folge dieses ständigen Überessens fand ich es passend, ab und zu mal zu kotzen. 

Das Kotzen wurde sehr bald zum täglichen Zwang. Ich brauchte immer mehr Nahrung, um mich damit vollzustopfen. Die täglichen Anfälle häuften sich. Ich brauchte sie, um die immer größer werdenden Spannungen kurzfristig abzubauen.

Fast 20 Jahre lang führte ich ein Doppelleben

Etwa 90 Prozent meiner Gedanken drehten sich ums Fressen und Kotzen. Ich plante pausenlos. In der Arbeitswelt funktionierte ich mit den restlichen 10 Prozent erstaunlicherweise hochprofessionell. Niemand bemerkte meine Sucht.

Meine Waage war meine engste Verbündete. Bis zu 20 Mal am Tag stellte ich mich darauf, um zu erfahren, wie ich mich fühlen sollte. Die Zahl entschied über meine Stimmung und mein Wohlbefinden.

Ich nahm alles in Kauf, um in dieser Abhängigkeit leben zu können. Kam unerwarteter Besuch, wurde ich innerlich nervös und wütend. Ich fühlte mich gestört und wurde aggressiv, weil ich meiner Sucht nicht nachgehen konnte. Oder ich verhielt mich ganz still, in der Hoffnung, dass niemand bemerkt, dass ich zu Hause bin. In diesen Momenten realisierte ich oft, wie krank ich war. Dieses elende Gefühl habe ich jedoch ganz schnell mit dem nächsten Anfall weggedrückt.

Der Abend, der die Wende brachte

Als ich an dem eingangs erwähnten Abend mit meinen Kindern im Wohnzimmer saß, war ich vollkommen überlastet durch die immer extremer werdende Bulimie. Mir schossen Tränen in die Augen und alles schien mir zu entgleiten. Ich konnte nicht mehr, konnte nichts mehr kontrollieren. In dieser Verzweiflung gab es für mich nur zwei Optionen: Leben oder Tod. Ich war an jenem Abend bereit, mir das Leben zu nehmen! Ich wusste bereits, wie ich es machen würde. Alles, was ich wollte, waren Ruhe und Frieden. 

Dann sah ich in die Augen meiner Töchter. Der Schmerz, sie als Waisen aufwachsen zu lassen, zerriss mir das Herz, die Tränen flossen wie ein Wasserfall und verwandelten sich in Verbundenheit, Liebe und tiefes Vertrauen. Dies war der Augenblick, der mich zurück ins Leben brachte. Ich versprach mir selbst, es zu schaffen. Frei zu werden. Glücklich zu werden. Verantwortung zu übernehmen und ein Leben zu kreieren, das sich zu leben lohnt. 

Ich war bereit, alles zu verlieren, um meine Freiheit zurückzugewinnen. Ich war bereit, ehrlich mit mir zu sein, meine Themen anzugehen, auch dann, wenn sie ungemütlich waren und mich vor große Herausforderungen stellten. Ohne Lügen, ohne Ausreden, ohne Hintertüren, ohne Rückfälle. 

Ich entschied, nochmals eine Therapie zu wagen. Der Therapeut inspirierte mich, und zum ersten Mal im Leben fühlte ich mich von jemandem verstanden. Er führte mich zu meiner Intuition und meiner Wahrnehmung zurück. Dahin, wo ich als Kind aufgehört hatte, zu vertrauen. Es fühlte sich an, wie nach Hause zu kommen. Zum ersten Mal habe ich mich wieder gefühlt und die Verbindung zu meinem Herzen gespürt. Schritt für Schritt habe ich wieder gelernt, ausschließlich dann zu essen, wenn mein Körper danach fragte, ihm das zu geben, was er braucht.

Ich bin dankbar, mich für das Leben entschieden zu haben

Heute bin ich unendlich dankbar für jede einzelne Herausforderung meines Lebens und für jeden Menschen, der mich ein Stück auf meinem Weg begleitet hat. Ich bin dankbar für jeden Schritt, den ich mutig gegangen bin und für jede Hürde, die ich gemeistert habe. Dankbar dafür, dass ich mich für das Leben entschieden habe!

Die Autorin: Nach fast 20 Jahren Bulimie hat Andrea Ammann im Mai 2004 den Ausstieg aus der Sucht geschafft. Sie ist heute Mutter von drei Mädchen und genießt ihr Leben und das Essen in vollen Zügen. 

Brigitte

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