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Hochbegabt: "Was hätte aus mir werden können, hätte ich früher davon gewusst?"

Hochbegabt: Frau mit Buch
© 2shrimpS / Shutterstock
Sie sprach schon als Kind zu schnell, war unruhig, langweilte sich ständig. Doch was mit ihr los war, erfuhr Katja* erst mit 43: Sie ist hochbegabt.

Wenn man als Kind in einem Dauerzustand permanenter Langeweile groß wird, hält man diese leider irgendwann für normal. Dass sie der Grund für das auffällig unruhige Verhalten eines kleinen Mädchens sein könnte, darauf kam in den 60ern kaum jemand.

Sich als Fünfjährige ständig zu exponieren, dauernd das Wort zu ergreifen, in jedes sich bietende symbolische Mikrophon zu sprechen (um beispielsweise den Eurovision Song Contest zu moderieren oder aus Krisengebieten zu berichten), fanden Eltern dieses Jahrzehnts unpassend. Für eine mögliche Erklärung fehlte es ihnen an Fantasie und wahrscheinlich war es ihnen sogar peinlich.

Jeden Abend wurde ich viel zu früh ins Bett geschickt und so von der Außenwelt abgeschnitten. Ich konnte den Inhalt aller zur Verfügung stehenden Bücher auswendig, sprach meinem Vater viel zu schnell, erschien ihm zu fahrig und dachte zu sprunghaft. Ich nahm gern drei Treppenstufen auf einmal und war fürchterlich ungeduldig. Ich fragte zu viel und galt allgemein als unbequem und anstrengend. Ich spielte nicht mit Mädchen, denn trotz meiner bemerkenswerten Anpassungsversuche konnte ich Barbie nichts abgewinnen.

Als Jugendliche fühlte ich mich unsicher und abgelehnt

Stattdessen verbrachte ich die meiste Zeit mit Thomas, einem fantastischen Geschichtenerzähler, der uns beide so oft in andere Welten brachte. Auf dem Gymnasium trennten sich unsere Wege. Thomas verfiel später dem Alkohol - und seit ich mehr über mich selbst weiß, kann ich nur ahnen, was in vielen Fällen der Grund für brüchige und gescheiterte Biographien ist, die nicht selten sogar im Suizid enden.

Als Jugendliche konnte ich mich nur schwer in Gruppen integrieren. Die Zusammenkünfte empfand ich als pure Zeitverschwendung. Allein zu Hause zu bleiben und ein gutes Buch zu lesen, zog ich Treffen mit anderen Jugendlichen jederzeit vor. Da sich aber in dieser Lebensphase ein gesundes Selbstwertgefühl auch durch Spiegelung in anderen speist, wurde meines nicht gerade stabiler. Ich fühlte mich zu diesem Zeitpunkt schon oft unsicher und abgelehnt. In wem hätte ich mich spiegeln sollen?

Die Schule war eine einzige Tortur. Meine Beiträge wurden meistens belächelt. Und dann immer diese Gruppenarbeit! Oft hatte ich die Fragen der Lehrer gar nicht verstanden. Wie kann man etwas fragen, was vollkommen offensichtlich ist?

Nur Mathe konnte ich nicht. Deshalb hielt ich mich auch nicht für besonders intelligent, im Gegenteil. Ich machte trotzdem Abitur und eine der Familientradition entsprechende, handwerkliche Ausbildung, obwohl ich ziemlich unpraktisch bin. Da ich damals selbst nicht an mich glaubte, hielt ich meine beiden Berufswünsche, Ärztin oder Journalistin zu werden, für geradezu größenwahnsinnig.

Hochbegabung ist kein Luxusproblem

Es begann eine Zeit großer Unzufriedenheit. Ich fühlte mich in meinem eigenen Leben nicht mehr wohl, war oft depressiv, ständig in Gedanken und zog mich immer mehr zurück. Rotwein und die intensive Beschäftigung mit Literatur und klassischer Musik halfen mir. Ich unterhielt mich dann gern mit Rilke, Chopin und den Impressionisten.

Diese Einseitigkeit zog ich der realen Welt vor. Psychosomatische Symptome häuften sich. Ich aß mehr, als mir gut tat, und konnte keine richtige Lebensfreude entwickeln. Alles fühlte sich falsch an, oder besser, ich fühlte mich selbst gar nicht mehr. Gedanken flossen nicht. Ich war geradezu taub und sah mich auf ganzer Linie unverstanden.

Was sich zunächst wie Koketterie oder die Darstellung eines Luxusproblems anhört, kann sich zu einer lebenslangen, zähen und gesundheitsgefährdenden Blockade entwickeln. Und zwar genau dann, wenn man nicht erkannt wird, keine geeignete Schule besucht und sich nicht auf eine passende berufliche "Schiene" bringen kann. Wenn man sein Potenzial nicht abrufen darf und dann in einem unpassenden beruflichen und privaten System landet.

Ich spreche von einer nicht entdeckten intellektuellen Hochbegabung. Viele Betroffene haben nicht die geringste Ahnung, warum sich in ihrem Leben kein Flow-Gefühl einstellen will. Es gibt so gut wie keinen Lebensbereich, der davon nicht betroffen ist. Hochbegabte stoßen mit ihrer "Andersartigkeit" permanent an die Grenzen der Normalität. Sehr fatal: wenn innerhalb von Freund- und Partnerschaften nicht "dieselbe Realität" geteilt wird und die anderen einen nicht wirklich verstehen können. Mißverständnisse und Einsamkeit sind programmiert.

Die Diagnose gab mir ein Gefühl von Freiheit

Weit überdurchnittlich intelligent, im oberen Extrembereich angesiedelt, sind zwei Prozent der Bevölkerung. Hochbegabt ist man mit einem IQ von mindestens 130. Signifikante Merkmale sind unter anderem eine extrem schnelle Informationsverarbeitung, eine hohe Merk- und Analysefähigkeit sowie unkonventionelles Denken im Hinblick auf Problemlösungen. Die Interessen von Hochbegabten sind breit gefächert und Routineaufgaben sind ihnen zuwider.

Viele sind zusätzlich auch so genannte Hochsensible, also extrem feinfühlig. Es gibt neben einer mathematisch-logischen und einer sprachlichen noch vier weitere Ausprägungen von weit überdurchschnittlicher Begabung. Testen lassen sollte man sich bei Psychologen, die auf Hochbegabungsdiagnostik spezialisiert sind. Sie können auch die spezielle Ausprägung der Begabung, die für einen Richtungswechsel in beruflicher Hinsicht entscheidend ist, bestimmen. Ist man diesbezüglich orientierungslos, gibt es zusätzlich die Möglichkeit eines Hochbegabtencoachings. Nach eingehender Analyse wird genau herausgefiltert, in welchem Bereich man sein Potenzial effektiv einsetzen kann.

Meine andauernden Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen (inklusive der zu meinen Eltern) brachten mich im Alter von 43 Jahren dazu, mich in Kiel testen zu lassen. Nach einigen Stunden hochkonzentrierter Testung teilte mir die Psychologin ihre erste Einschätzung mit. Das Ergebnis würde wahrscheinlich positiv ausfallen. Im Auto brach ich in Tränen aus. Was hätte alles aus mir werden können, hätte ich nur früher davon gewußt?

Mein ganzes Leben lief wie ein Film vor meinen Augen ab und ich hatte plötzlich für all die Situationen in der Vergangenheit eine Erklärung, in denen ich mich deplatziert oder stark verunsichert gefühlt hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben entwickelte ich ein wunderbares Gefühl von Freiheit und Sicherheit. Nein, ich war nicht etwa zu begrenzt - ich hatte nur eine andere Wahrnehmung und oft ungewöhnliche Ideen. Diese Klarheit verdrängte schnell die Verzweiflung darüber, so viele Jahre meines Lebens verloren zu haben.

Heute weiß ich, warum ich drei Bücher gleichzeitig diagonal lese oder warum ich die wichtigsten Zusammenhänge des U-Bahn-Plans von Tokyo nach einer Minute verinnerlicht habe, ohne Japanisch zu können. Um mich beruflich komplett neu zu orientieren, dazu fehlt mir leider die Zeit. Mein ebenfalls betroffener Sohn braucht mich noch sehr. Im Berufsleben profitieren meine Teams von meinem neu erlangten Selbstbewusstsein und ich habe endlich angefangen zu schreiben. Das war immer schon meine Leidenschaft. Der Unterschied zu früher: Ich traue es mir jetzt zu.

* Name von der Redaktion geändert

Fotos: Thingamajiggs/Fotolia

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