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Hochbegabung "Meine Mutter hat sich für mich geschämt"

Hochbegabung ist für Valerie mehr Fluch als Segen
© Alex Linch / Shutterstock
BRIGITTE.de-Leserin Valerie* leidet unter ihrer Hochbegabung – ihre Fähigkeiten machen sie zur Außenseiterin.

Ich rede selten darüber. Weil man darüber besser nicht spricht. Wenn ich sage: "Ich bin hochbegabt", hören die meisten: "Ich bin schlauer als du." Als würde ich mich über den anderen erheben wollen, ihn kleinmachen, ihn belehren und bevormunden. Tatsächlich erwarte ich nichts als Anerkennung für das, was ich weiß und kann. Ich möchte, dass man mir zuhört.

Mein Kopf ist ein Hochleistungsapparat

Ich bin nicht per se schlauer. Aber mein Kopf ist ein Hochleistungsapparat. Wenn er arbeitet, läuft er heiß, bis er das gewählte Thema bis zur Gänze durchdrungen hat. Ich halte den Mund, solange ich nur über Halbwissen verfüge. Wenn ich mich äußere, wenn ich tätig werde, dann weiß ich nicht alles, aber überdurchschnittlich viel. 

Die herrschenden Vorstellungen von Hochbegabung sind häufig simpel. Sage ich: "Ich bin hochbegabt", ohne gleichzeitig eine Professur in Nanotechnologie oder Astrophysik zu haben, ist mein Gegenüber enttäuscht und gerät sogleich in Zweifel über den Wahrheitsgehalt meiner Aussage. Betriebswirtin also? Nun ja. Wenigstens im Vorstand einer der Top-10-Konzerne? Auch nicht? Vielleicht staple ich nur hoch. Vermutlich bin ich nur eine Frau, die gern intelligent wäre.

Hochbegabung ist auch ein feministisches Thema. Eine Frau soll bis heute vorrangig hübsch und nett sein, gerne mütterlich und fürsorglich, wahlweise sexy und erfolgreich, aber dennoch in jedem Fall bereit, zum Mann aufzuschauen. Besitzt sie Klugheit, so soll diese allenfalls im Verborgenen wirken, zurückhaltend die Geschicke der Chefetage oder des sich beruflich entfaltenden Gatten lenken. Trotz aller Errungenschaften weiblicher Emanzipation:

Intelligenz wird bei Frauen immer noch als irritierend bis störend empfunden, Ehrgeiz als ein zu mäßigendes Übel.

Kaum jemand weiß, wie vielfältig die Hochbegabung ist. Es gibt mehr als die Mathe-Genies und die musikalischen Konzerthallenfüller. Leider stellen eben jene oft eine elitäre Abspaltung dar, innerhalb derer man nichts wissen will von Hochbegabung ohne akademische Weihen.

Andererseits kann nur auf rechtzeitige Förderung hoffen, wer in einen entsprechenden Haushalt hineingeboren wurde. Das Erkennen einer Hochbegabung beim Kind setzt eine differenzierte Wahrnehmung voraus. Begabung früh zu fördern kostet Geld. Auch den finanziellen Anschub einer außergewöhnlichen Karriere muss man sich leisten können.

Meine Mutter hat sich für ihre sonderbare und komische Tochter geschämt. Mein Vater war veralteten Vorstellungen verhaftet, wonach Mädchen nichts als zukünftige Ehefrauen und Mütter sind. Heute besitze ich nicht viel mehr als die Krankheiten, die meinem selbstausbeuterischen Leistungsdrang folgten.

Mein Vater entschied, dass ich einen Pflegeberuf ergreife

Weil mein Vater es für mich so entschieden hat, erlernte ich einen Pflegeberuf. Über die Jahre habe ich versucht, mich hochzuarbeiten, mit enormem Engagement, grenzenloser Einsatzbereitschaft, mit einem nebenberuflichen, selbstfinanzierten Betriebswirtschaftsstudium, mit Quereinstiegen. In null Komma nichts war ich vertraut mit fremden Branchen, neuen Tätigkeiten, größerer Verantwortung. Und ich war dem Glauben verfallen, in der freien Wirtschaft würde belohnt, wer nach oben strebte. Ich wurde eines Besseren belehrt.

Die männlichen Grabenkämpfe im Job empfand ich als Zeitverschwendung. Ich hatte vor, die Krieger links liegen zu lassen und siegreich an ihnen vorbeizuziehen – nicht ahnend, dass meine Chefs das unterbinden würden. Weibliche Seilschaften gab es früher noch viel weniger als heute. Die Gender-Pay-Gap war Standard. Ob die Tatsache, dass ich eine attraktive Frau war, dazu beigetragen hat, dass ich überhaupt etwas erreicht habe, oder vielmehr, dass ich nicht weitergekommen bin, vermag ich nicht zu sagen.

Hochbegabt zu sein, mag reizvoll klingen. Für mich ist es mehr Fluch als Segen.

Hochbegabung bedeutet vertane Chancen, verpufftes Talent, wegdiskriminierten Ehrgeiz und beißende innere Einsamkeit. Wenn zwei Hochbegabte sich begegnen, entfacht ein glühendes Feuerwerk. Doch was nützt ein entflammter Geist, wenn nur zwei Prozent der Menschheit ihn versteht?

Und das bitte ich, nicht despektierlich zu verstehen. Es ist tatsächlich zermürbend, die Gedanken nie teilen zu können. Es ist entkräftend, sich immer erklären zu müssen. Es ist deprimierend, stets allein der Zeit voraus zu sein. Es macht krank, nie zeigen zu können, welche Kraft in einem steckt. Es erstickt jede Karriere im Keim, wenn Vorgesetzte das eigene Potenzial nicht erkennen und den als Aufsässigkeit missverstandenen Eifer maßregeln. Es lässt jede Beziehung verdorren, wenn einer von beiden zwar Nutznießer der vielfältigen Fähigkeiten des anderen ist, selbst aber nichts Gleichwertiges beisteuern kann.

Der Preis für meine Hochbegabung ist Einsamkeit

Wenn ich im Privaten zeige, wer ich bin, fühlen Menschen sich entweder unangenehm durchschaut oder sie umkreisen mich wie Planeten die Sonne. Es fehlt der Austausch auf gleicher Ebene. Ich werde zum Außenseiter. Nicht ohne Grund habe ich früh versucht, zu sein wie die anderen. Es ist meine Überlebensstrategie: mich klein machen, nicht zeigen, was ich denke, was ich weiß und was ich kann. Selbstgewähltes Downgrading. Doch der Preis ist hoch, denn ich werde immer nur eine schlechte Kopie sein, fern von mir selbst.

Ich habe fünf Jahrzehnte gelebt, ohne zu wissen, dass ich hochbegabt bin. Die Bestätigung meines Verdachts durch eine spezialisierte Fachkraft hat eine Sturzflut an Tränen bei mir ausgelöst. Im Rückblick die Ursache für so viele Probleme zu entdecken, tut gut. Zu erkennen, wie sehr mein Leben hätte anders verlaufen können, tut weh.

*Der Name ist der Redaktion bekannt

Brigitte

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