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Früh verwitwet Wenn der Familienvater jung verstirbt

Alia Schilling hat sehr früh ihren Mann verloren
Alia Schilling hat sehr früh ihren Mann verloren
© privat
Ein junger Familienvater bekommt die Diagnose Hirntumor. Es folgen sechs Jahre vergeblichen Hoffens. Hier erzählt seine Frau Alia, 44, wie sie ihr Schicksal meistert.

Krankheit, Sterben, Tod? Das war nichts für uns, das passierte nur anderen. Studieren, verlieben, ausgehen, Ausstellungen besuchen, Abschlüsse machen, das war unser Leben mit Mitte 20. Doch mit einem Schlag veränderte sich alles drastisch: Epilepsie, Hirntumor, Krankenhaus.

Mein Mann Ingo hatte einen Hirntumor, zunächst ein "Anaplastisches Astrozytom WHO III". Der musste sofort raus! Erst nach der Not-OP hatten wir Zeit, zu recherchieren, was die Diagnose bedeutete. Ingo und ich waren beste Freunde, seit Anbeginn verliebt ineinander und wir hatten eine dreijährige Tochter. Romantisch oder doch eher tragisch? Was macht man verliebt, wenn der Partner Teile seines Gehirns entfernt bekommt? Was macht man mit einer desaströs verkürzten Lebenserwartung?

Ich entschied mich für die Liebe

Es kämpften zwei Seiten in mir. Die eine, die mit Ingo und unserer kleinen Familie im Hier und Jetzt glücklich war, trotz Tumor. Die andere, die Sicherheit in der Zukunft ersehnte, ohne Erkrankungen, ohne Leid – besonders natürlich für unsere kleine Tochter. Damals haben mein Mann und ich noch nicht zusammen gewohnt. Ich hätte mich für eine Freundschaft oder auch für den Kontaktabbruch entscheiden können, wenn ich Angst gehabt hätte, mit seinem Hirntumor nicht klarzukommen. Doch nach zwei Wochen und vielen schlaflosen Nächten habe ich mich dafür entschieden, mit Ingo zusammenzuziehen, ihn zu heiraten und für ihn da zu sein bis zum Ende. Ich hatte mich für die Liebe entschieden. 

Es gab keine Unterstützung

Nach vier Jahren wunderschönen Lebens kam das Rezidiv – plötzlich, ohne Vorwarnung. Es war ein Glioblastom. Komplett auf uns allein gestellt, ohne jegliche Angebote für so jung und so schwer erkrankte Menschen, fühlte ich mich durch die permanente Verschlimmerung von Ingos Gesundheitszustand häufig am Limit des Ertragbaren. Damals gab es (wie heute) leider keine öffentlichen medizinisch-sozialen Anlaufstellen für Betroffene und Angehörige, wo man über die Krankheit, Behandlung, Erwerbstätigkeitsfragen oder familiäre Herausforderungen sprechen konnte.

Wir suchten daher nach einer Hirntumor-Selbsthilfegruppe – ebenfalls vergeblich. Wir fanden auch keine Bücher von Angehörigen für Angehörige. Meine Eltern waren ebenfalls krank und wohnten 500 Kilometer von uns entfernt an der Mecklenburgischen Seenplatte. Auch sie konnten uns nicht unterstützen.

Ingo verstarb sechs Jahre nach der Diagnose

Palliativstation, Psychoonkologie, Hospiz – damit hatten Ingo und ich wie die meisten jungen Menschen keine Erfahrung. Wir wussten nicht einmal, dass es solche Einrichtungen gab. Als kleine Familie mit einem Kindergartenkind, das kurz vor Ingos Tod eingeschult wurde, blieb uns nichts anderes übrig, als gemeinsam die Hürden zu überwinden, Probleme zu lösen und die seelischen und körperlichen Herausforderungen anzunehmen. Sechs Jahre nach der Diagnose verstarb Ingo mit nur 34 Jahren.

Ein Jahr nach Ingos Tod – als es mir nach einer schweren Erschöpfung allmählich besser ging –, wurde ich von Bekannten häufig bei Fragen zu Hirntumoren konsultiert. Schließlich baten mich Betroffene, eine Gesprächsgruppe für Angehörige und Erkrankte zu gründen. Da ich selbst solch ein Angebot dringend benötigt hätte, um Halt, Mut und Unterstützung zu finden, gründete ich 2019 mit meiner besten Freundin die "Hirntumor-Selbsthilfegruppe Mittelhessen". 

Schon zum Gründungstreffen kamen knapp 20 Interessierte. Davon war ich sehr ergriffen. Der Wunsch nach Austausch war wohl bei anderen Menschen genauso stark wie damals bei mir. Heute bieten wir analog und digital Hilfe für Tumorerkrankte, deren Angehörige, Freunde, Nachbarn, Bekannte und Ärzte an. Ich bin sehr dankbar, dass ich helfen und Menschen dazu ermutigen kann, Hilfe anzunehmen und mutig zu handeln.

Die Autorin: Alia Schilling, 44, lernte die Welt als Flugbegleiterin kennen und arbeitete 15 Jahre als Lehrerin. Durch den zu frühen Tod ihres Ehemannes veränderte sie sich beruflich mit dem Ziel, Menschen zu helfen. Heute arbeitet sie als Heilpraktikerin für Psychotherapie in Hessen und leitet die Hirntumor-Selbsthilfegruppe (www.hirntumor-was-nun.de). Ihre Erfahrungen mit der Krankheit hat sie in ihrem Buch "Leben und Sterben mit einem Hirntumor. Der ungeschönte Bericht über die finale Phase eines Glioblastom-Patienten" aufgeschrieben und im Eigenverlag veröffentlicht.

Brigitte

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