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Deutschland geht es gut - warum müssen wir trotzdem immer meckern?

Susanne Friedrich wuchs in Indien und Südostasien auf. Sie lebte in London, Paris und Sankt Petersburg und spricht vier Sprachen. "Notizen in der Kälte" schildert ihre Erlebnisse in Russland. Ihr neuer Roman "Monstertörtchen" ist als E-Book erhältlich.
Susanne Friedrich wuchs in Indien und Südostasien auf. Sie lebte in London, Paris und Sankt Petersburg und spricht vier Sprachen. "Notizen in der Kälte" schildert ihre Erlebnisse in Russland. Ihr neuer Roman "Monstertörtchen" ist als E-Book erhältlich.
© Katrin Penschke
Das Wetter Mist, die Regierung unfähig, der Nachbar zu laut: Wir Deutschen meckern gern und viel - und auf hohem Niveau, findet Susanne Friedrich. Denn seit die Autorin der Leserkolumne "Stimmen" in Russland gelebt hat, weiß sie, was uns fehlt: Dankbarkeit.

Sie kennen das: Der Wecker klingelt um sechs, die Nacht war kurz, es ist kalt und grau. Da hilft nur eins: sich dem Volkssport hingeben und auf hohem Niveau nörgeln. Mundgymnastik, wir sollen ja alle gesund und fit bleiben. Das Leben kann hart sein, besonders in Deutschland. Und, ich gebe Ihnen recht: Ein Dach über dem Kopf, fließend Wasser, die Strom- und Energieversorgung, das Schul- und Bildungswesen, ein funktionierender Rechtsstaat, das Überangebot an Konsum und Nahrungsgütern, moderne medizinische Versorgung, ein ausgeprägtes Sozialsystem, die Zivilgesellschaft und obend rein die Qual der Wahl der täglichen Garderobe sind ein Kreuz, das es jeden Tag zu schultern gilt.

Ich oute mich hiermit offiziell als Spielverderberin. Die oben aufgeführten Dinge klingen nicht sexy oder berauschend, zugegeben. Ich weiß aber aus Erfahrung, dass sie es sind. Echt abgefahren, würden meine Sprösslinge sagen. Versuchen Sie mal, bei minus 40 Grad Celsius ohne Heizung auszukommen und dabei keinen Nervenzusammenbruch zu erleiden. Klingt verführerisch, finden Sie nicht? Oder bei der Anmeldung Ihres Geländewagens zu erfahren, dass er in Kriegszeiten wieder beschlagnahmt wird - wie verlockend.

Ende der neunziger Jahre zog ich mit meinem damaligen Mann und sechs Monate alten Sohn nach Sankt Petersburg, in einer Zeit, in der viele Russen bereitwillig die entgegengesetzte Reise ohne Rückfahrschein antraten. Ziel: Deutschland, besser geht's nicht. Ich bereue die Zeit dort nicht, im Gegenteil. Russland war nicht mein erster Auslandsaufenthalt. Als Kind deutscher Eltern bin ich in Indien geboren und Südostasien aufgewachsen, lebte nach dem Abitur lange Zeit in London und später Paris. Europa bereiste ich aus beruflichen Gründen in diesen Jahren ausgiebig. Ich bin und bleibe der ewige Ausländer. Ich gehe als Deutsche einfach nicht durch, das stelle ich immer wieder fest. Ich tröste mich damit, dass ich dafür vier Sprachen beherrsche und mir den Status Weltbürger wohlwollend einverleibt habe, besonders da ich von Geburt an etwas besitze, worum mich Unzählige beneiden - einen deutschen Pass. "Deutscher Bundesbürger" klingt für viele Deutsche nicht sexy oder berauschend. Haben Sie eine Ahnung: Das Gegenteil ist der Fall.

Ich kann mich nur zu gut an ein Gespräch mit einem russischen Freund erinnern, als Ende der neunziger Jahre eine weitere Wirtschaftskrise das Land erschütterte und unser erstes Unternehmen vor dem Aus stand. Auf meine Aussage, dass wir beide im selben Boot säßen, lachte er nur aus vollem Herzen und kommentierte trocken: "Richtig, du mit und ich ohne Rettungsring." Womit mein deutscher Pass und die Option, all das hinter mir zu lassen, gemeint war. Ich bin geblieben, zehn Jahre insgesamt. Nach meiner Rückkehr hat man mich oft gefragt, warum ich so lange dort verweilt sei. Die Antwort kam ohne zu zögern: die Menschen dort. Sie haben weniger, aber geben mehr. Auch das entspricht sicher nicht dem gängigen Bild der Russen, das durch die Medien bereitwillig serviert wird. Und doch ist es ein Teil meiner Erfahrungen dort. Vielleicht entschloss ich mich deswegen, die Erinnerungen in einem Buch zusammenzutragen. "Notizen in der Kälte" erzählt von diesen bewegten Jahren und gibt einen Einblick in ein Land und seine Menschen, das für viele immer noch ein Enigma darstellt. Vielleicht lassen sich in der jetzigen Krise auch deshalb so zahlreiche alte Ängste wieder schüren und, ja, steuern.

Sankt Petersburg war und bleibt eine meiner wert vollsten Erfahrungen. Warum? Weil mir binnen kürzester Zeit klar wurde, was im Alltag einer Wohlstandsgesellschaft untergeht: Dankbar zu sein für all das, was man hat und uns mittlerweile als Grundvoraussetzung erscheint. Und das ist, wenn man uns Deutsche betrachtet, eine ganze Menge. Wieso sonst wollen unzählige Menschen aus aller Welt hierher, um sich eine gesicherte Existenz aufzubauen? Wir sind nach den Vereinigten Staaten das begehrteste Auswanderungsziel. Nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass ein Großteil der Weltbevölkerung ohne Strom und fließend Wasser auskommen muss und unser geregeltes Leben da wie aus einem anderen Sonnensystem erscheint. Supergalaktisch, könnte man fast sagen.

Ich stelle mit Bedauern fest, dass die meisten mit dem Dasein in einer Wohlstandsgesellschaft, die wir nun einmal darstellen, nicht zufriedenzustellen sind. Im Gegenteil. Mir kommt es oft vor, dass Herr und Frau Nimmersatt den Hals einfach nicht vollkriegen. Natürlich gibt es immer jemanden, mit dem man sich vergleichen kann. Der mehr hat, der schöner, reicher, beliebter oder erfolgreich er ist, dem die Sonne förmlich aus dem Hintern scheint. Auch kann man seine Zeit damit verbringen, ihm das zu neiden und sich darüber zu beschweren, dass das Leben es besser mit ihm meint. Ich wünsche noch viel Vergnügen im Kindergarten. Eine bessere Zeitverschwendung ist fast nicht möglich. Denn eins scheint oft vergessen zu werden: Nicht der Staat, wir selbst sind für unsere Seelenheil verantwortlich und dafür, was wir aus unserem Leben machen.

Ich bin eine Spielverderberin, ich weiß. Aber denken Sie in Ruhe darüber nach. Wir leben, im Vergleich mit einem Großteil der Weltbevölkerung, unter den bestmöglichen Voraussetzungen. Uns geht's gut. Was wir daraus machen, ist eine grundeigene Entscheidung. Wir sollten nicht versuchen, jemand anderen dafür verantwortlich zu machen. Dieses Glück gebe ich für meinen Teil nicht aus der Hand. Ich versuche aus der Zeit, die mir gegeben ist, das Beste zu machen. Es gibt gute und schlechte Tage, das gehört dazu. Trotzdem genieße ich die Freiheit und rufe mir in schwachen Momenten immer wieder ins Gedächtnis, wie verwöhnt wir sind. Und wenn morgens um sechs der Wecker klingelt, die Nacht kurz war und es kalt und grau ist, kotze ich. Genau wie andere. Um mir kurze Zeit spät er unter der wohlig warmen Dusche zu sagen: Uns geht's gut. Besser als vielen anderen.

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