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Ganztagsbetreuung in der Schule: Was macht das mit der Kindheit?

Kinder im Schulunterricht
© LightField Studios / Shutterstock
Durch Wiesen stromern, Freunde treffen, frei spielen: Für die berufstätige Bloggerin "Mama notes" gehört das zum Kindsein dazu - bleibt angesichts der Ganztagsbetreuung in der Schule aber auf der Strecke. Ihre "Stimme" zu einem kaum lösbaren Dilemma.

"Kommst Du runter zum Spielen?" Ob es diesen Satz noch oft geben wird, wenn das Kind zwangsweise bis 16 Uhr in der Schule ist? Ja, ich gebe es zu, der Gedanke an die Schulzeit meiner Kinder macht mich zwiegespalten. Zum einen freue ich mich mit Kind1 auf die tolle Zeit, wenn sie "ein Schulkind" sein wird. Eigentlich haben wir noch zwei Jahre Zeit und ich muss mich erst in anderthalb Jahren für eine Schule entscheiden. Das sehe ich alles noch recht entspannt und ich lasse Infos erst mal auf mich zukommen. Meine Tochter findet Schulkinder "cool" und will auch mal eines sein. Lesen und Schreiben sind spannend und allgemein lockt die Schule. Das ist wunderbar und erinnert mich an damals, als ich so alt war wie sie und mich auf die Schule gefreut habe.

ABER! Als ich mich letztens mit einer Mutter unterhielt, deren Tochter in diesem Sommer eingeschult wird, sank mein wehes Mutterherz doch gehörig in die Hose. Ihres war dort wohl auch längere Zeit, bis sie sich einen pragmatischen Ruck geben konnte, "weil es eben so ist und ich es nicht ändern kann!" Aber der Reihe nach: Betreuungsstruktur "am Nachmittag" ?Wir leben in Nordrhein-Westfalen und in unserer Stadt bieten die Grundschulen folgende Betreuungsmöglichkeiten an: 1.Keine: die Kinder kommen direkt nach der Schule nach Hause. 2.Betreuung bis 14 Uhr im internen oder externen Hort. 3.Betreuung bis 16 Uhr. Das ist dann eine geschlossene Unterrichtsreihe, also kann man nicht vor 16 Uhr abholen, denn es gibt auch schulrelevanten Unterricht am Nachmittag. Mal nennt sich das Ogata (offene Ganztagsschule), mal Ganztagsschule, Fakt aber ist, dass ich mein Kind nicht flexibel abholen kann.

Zwischen diesen Abholzeiten kann man nicht wählen. Man entscheidet sich bei der Anmeldung für eine Betreuungsform, that’s it. Es hat wohl mit der Lehrerzuteilung zu tun.

Abholen bis 14 Uhr werde ich niemals mit meinen Arbeitszeiten und Kundenwünschen unter einen Hut bringen können, ich könnte es nur tageweise versuchen. Bis 16 Uhr ist es mit einem Teilzeitjob schon möglich, aber hier fehlt mir die Flexibilität der Schule/des Systems für offene Abholzeiten. Eine Flexibilität, die ansonsten ständig von Arbeitnehmern, Eltern, Familien erwartet wird, aber Familien so selten gewährt wird. Schön und wichtig, dass überhaupt eine Betreuung angeboten wird. Natürlich! Vor noch wenigen Jahren waren die (zumeist) Mütter in der Grundschulzeit noch an Heim und Herd gebunden. Nicht gerade berufsfördernd. Was mich gerade so beschäftigt, ist der Gedanke, dass mein Kind von morgens 8 Uhr bis nachmittags um 16 Uhr in der Pflicht sein wird. Ja, die Unterrichtsfächer wechseln sich ab mit Spiel, Kreativitätsblöcken, Sport, Gruppenarbeit, aber schulrelevante Fächer finden auch am Nachmittag statt, weswegen flexible Abholzeiten nicht möglich sind. Das ist das, was ich unfassbar schade finde! Meine Kinder nur von frühestens 16 bis 20 Uhr zu sehen und zu erleben beziehungsweise frei spielen zu lassen, finde ich zu wenig für eine Kindheit.

Ich finde, das ist zu wenig Familienzeit, zu wenig freie Zeit. Zu wenig selbstbestimmtes Verabreden der Kinder in selbst gewählten Räumen oder Orten. Vielleicht könnte ich es irgendwie hinbiegen, dass ich meine Kinder nur zur Halbtagsbetreuung anmelde und um 14 Uhr abhole? Aber dann werden die meisten ihrer Freunde bis 16 Uhr in der Schule/Schulbetreuung sein und für Spiele und selbstbestimmtes Verabreden gar nicht zur Verfügung stehen. Ich gestehe, ich vergleiche das alles mit meiner Kindheit in den 70ern und 80ern. Und ich gestehe weiter, dass sich Folgendes nicht mit meiner feministischen Grundeinstellung deckt. Tja, das ist einer meiner Widersprüche. Meine Mutter blieb zu Hause (ich weiß, dass natürlich auch in dieser Zeit viele Frauen berufstätig waren!) Und so hatte ich jeden Tag nach der Schule meine Mutter, die präsent war, für Gespräche, Nähe, Home-Base. Nach dem Familien-Mittagessen, an dem sogar mein Vater teilnehmen konnte, machte ich Hausaufgaben und traf mich dann mit Freund*innen. Wir trafen uns mal hier, mal dort, hatten ein bestimmtes Gebiet draußen, in dem wir uns frei bewegen konnten. Wie bauten uns Geheimgänge in hochgewachsenen Wiesen, spielten Pferdereiten auf Stromkästen, machten Schnitzeljagden in großen Kinderbanden. Ja, ich weiß ich idealisiere, aber es ist alles so gewesen. Und obwohl ich das nicht so wie meine Mutter leisten wollte, weil ich gerne arbeite und meinen Job weiter verfolgen möchte, wünsche ich es mir paradoxerweise doch für meine Kinder. Das Dilemma bleibt für mich erstmal ungelöst.

Dass eine glückliche Kindheit davon abhängt, ob die Mutter mittags kocht oder nicht, halte ich für Blödsinn. Aber dass ein Kind zeitnah nach der Schule eine Home-Base hat, mit der Möglichkeit zu Gesprächen, der, sich zurückzuziehen, mal allein zu sein, in Ruhe zu lesen, das schon.... Wenn ein Kind jeden Tag erst um 16 Uhr aus der Schule gehen kann, bleibt für all das, auch für freies Spielen, das selbstbestimmte Verabreden mit Freund*innen, zu wenig Zeit. Abgesehen von Kursen wie Musik oder Sport, die ein Kind auch noch interessieren könnte. Ich frage mich wirklich, was das für eine Kindheit ist, wenn man den Großteil des Tages in einer Einrichtung verbringt und dort angeleitet wird. Auch wenn dort die meisten Freunde sind und es neben Lernfächern tolle Angebote wie Chor, Malen und Sport gibt. Es hat doch auch eine Bedeutung, wenn die Kinder nachmittags in einen außerschulischen Kurs gehen und dort neue Kinder kennen lernen. Und, nein, ich finde, diesen in die Zeit nach 17 Uhr zu quetschen, irgendwie zu viel und nicht ideal. Zumindest im Alter von sechs bis gefühlt elf.

Was macht das aus unseren Kindern? Was macht das mit der Privatheit in sich selbst? Mit der Konzentration? Mit der Selbstfindung und Sozialisierung außerhalb von Einrichtungen? Was macht es mit der Selbstständigkeit und mit ihrem Selbstbewusstsein?

Was ist Kindheit heute??Aufgrund unserer Jobsituation kann ich nicht nur bis 13 Uhr arbeiten, um dann mein Kind für den Nachmittag in Empfang zu nehmen. Geht einfach nicht. Meine Vorstellung von einer Kindheit mit Freiheit, Selbstversuch, Entdeckung und selbstgewählten sozialen Verbänden muss ich revidieren und neu finden. Das stimmt mich traurig, zumindest sentimental. Und schwierig finde ich es auch. Ich kenne auch die Gegenstimmen aus einer Blitzrecherche in meinem Umfeld und via Twitter, die die Betreuung ab der Grundschule sehr begrüßen, weil sie die Möglichkeit der Frauen zur Berufstätigkeit fördert und die Bildungschancen von Kindern aus so genannten "bildungsfernen" Schichten erhöht. Und selbstverständlich finde ich das wichtig und richtig. Es gibt auch Stimmen, die daran erinnern, dass Rufe wie "Oh weh, die Kindheit geht in Ganztagsschulen flöten" in Deutschland besonders laut sind, vor allem im Vergleich zu Frankreich, Belgien, Großbritannien, Skandinavien. Das sollte ich auch noch mal überdenken. Was ich mir wünsche:

•Flexible Abholzeiten nach der Schulzeit

•Schulrelevante Fächer nicht mehr am Nachmittag

Das sind meine aktuellen Bauchschmerzen und ich werde mich definitiv noch weiter in das Thema Schule, Schulformen, Unterrichtsformen einarbeiten. Mir schwebt ungefähr vor, welche Schulform ich gut finde, will das aber noch verifizieren. So soll die tolle Schule mit dem guten Ruf und dem mir angenehmen Pädagogik-Konzept angeblich nicht so engagierte Lehrer/Pädagogen haben, wie die "Norm-"Schule nebenan, die neben dem Frontalunterricht noch kulturelle und soziale Probleme unter den Kinder bearbeiten muss. All dies sind Fragen, die ich mir erst noch wirklich stellen und dann beantworten muss.

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