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"Ich bin Mutter - und magersüchtig"

"Ich bin Mutter - und magersüchtig"
© Nina Buday/shutterstock
Diese Geschichte hat (noch) kein Happy End: Eine junge Mutter erzählt, wie sie magersüchtig wurde, und was das für sie und ihr Kind bedeutet.

Ich werde an Weihnachten 24 Jahre alt. Jedoch sieht man mir mein exaktes Alter und vor allem die Tatsache, dass ich Mutter einer vierjährigen Tochter bin, wohl nicht immer an.

Als Schwester meines Kindes bezeichnet man mich öfter. ,,Sei doch froh über dein junges Aussehen", kommt wohl noch vor der Frage, wieso ich denn nicht einfach mehr esse, um zuzunehmen.

Beide Themen beschäftigen mich nun seit vielen Jahren, und mein junges Aussehen ist für mich kein Grund zur Freude, denn es ist nur ein sichtbares Zeichen, dass ich nicht so aussehe, wie es in meinem Alter dem Standard entspricht.

Auch ist mein Alltag nicht wie der meiner Freunde oder Bekannten. Doch würde ich gerne etwas weiter vorne anfangen, um meine Geschichte etwas näher zu erläutern.

Ich war ein Trostesser

Kimberly F. unternimmt so oft es geht etwas mit ihrer Tochter. Doch die Magersucht zwingt sie häufig in die Knie.
Kimberly F. unternimmt so oft es geht etwas mit ihrer Tochter. Doch die Magersucht zwingt sie häufig in die Knie.
© Privat

Meine Kindheit war toll. Liebevolle und fürsorgliche Eltern, die oft zurücksteckten, um mir vieles zu ermöglichen, was ich sonst nie erlebt hätte. Danach folgte meine Jugendzeit, die dann nicht mehr ganz so heiter verlief. Bei Krankheiten und privaten Vorfällen suchte und fand ich Trost und inneren Frieden im Essen.

Natürlich sah man mir das nach einiger Zeit an. Ich war nicht gerade schlank und wurde in der Schule gemobbt. Kinder können sehr grausam sein.

Wer selbst keine schöne Schulzeit hatte, versteht vielleicht, wie Kinder und Jugendliche reagieren können. Und auch wenn man sich vornimmt, es sich nicht zu Herzen zu nehmen, klappt das mit einem dünnen Fell, wie ich es habe, nicht wirklich. Ich nahm weiter zu und die Kilos vermehrten sich sehr schnell.

Mobbing war lange Zeit ein großes Thema für mich. Mein Entschluss stand fest: Ich wollte auch so dünn und erfolgreich sein, genau wie die Mädchen, die mich als Lachnummer ansahen. Wenn ich dünn würde, wäre ich auch beliebt.

An dieser Stelle will ich betonen, dass keiner etwas für meine Magersucht kann. Nie im Leben habe ich anderen die Schuld zugewiesen. Man selbst entscheidet, was man seinem Körper antut - und was nicht.

30 Kilo waren nicht genug

Ich verlor innerhalb eines Sommers 30 Kilo und strebte nach mehr. Ich konnte mir endlich die Kleider kaufen, die ich vorher nur im Schaufenster mit Tränen in den Augen begutachtet hatte.

Ich veränderte meine Frisur öfter, als ich mich erinnern kann. Das neu gewonnene und zugleich so schwer erkämpfte Selbstvertrauen gefiel mir. Dass ich bereits krank war, wollte ich mir damals nicht eingestehen.

Ich belog mich und zählte mich zu den ganz normalen Leuten, die einfach nur etwas Gewicht verlieren wollten. Ich war auch ein wenig stolz. Ich log mir vor, dass ich ja auf nichts verzichten würde. Ich aß einfach nur wenig. Doch mein Leidensweg hatte gerade erst begonnen.

Ich aß nur noch abends. Mein Abendessen war dabei kaum größer als ein Apfel. Essen, das man normalerweise als kleine und gesunde Mahlzeit ansah, machte mir Angst.

Dann war ich schwanger

Als ich meinen heutigen Ex-Mann traf, gewann ich ein wenig die Freude am Essen wieder. Er aß ungesund und fettig, und ich machte mit. Vielleicht, weil ich so verliebt war. Oder einfach weil ich dachte, ich hätte jemanden gefunden, der mich so akzeptiert, wie ich bin.

Durch meine Magersucht funktionierte mein Körper aber nicht mehr. Auch als ich zunahm, kam vieles einfach nicht wieder. Meine Regel blieb immer wieder aus. Nach zwei Monaten extremer Magenschmerzen und vieler Arztbesuche, ging ich zum Frauenarzt.

Das Ergebnis war weder die Einnahme von Antibiotikum, noch eine Magenspieglung oder eine Einweisung ins Krankenhaus. Es hieß Mutterpass. Ich war schwanger. Im sechsten Monat. In drei Monaten würde ich Mutter sein.

Ich war 19 und ein Baby war wohl mein letzter Wunsch. Ich war immer noch viel zu krank. Was konnte ich diesem Kind bieten? Ich hatte weder einen Schulabschluss, noch eine Ausbildung. Ich war wegen meiner Magersucht von der Schule freigestellt worden. Aber auch was meine Ausbildung betraf, übernahm ich wenig Verantwortung für mich selbst. Ich suchte mir keine Hilfe. Stattdessen war ich ruhelos und immer unterwegs. Auf der Flucht vor mir und meiner Sucht, nichts zu essen.

Und jetzt sollte ich für ein Kind sorgen?

Doch in der Sekunde, als ich diese winzige Hand auf dem Ultraschall sah und der Arzt mir sagte, dass das vermutete Mädchen mir winkte, war die Entscheidung gefallen. Ich wollte das Kind.

Die Schwangerschaft drängte die Magersucht zurück

Mein Ex-Mann erfuhr es zuerst, denn vor der Reaktion meiner Eltern hatte ich große Angst. Ich vertraute dem Vater meines Kindes, er nahm die Nachricht positiv auf. Die Situation entspannte sich, ich freute mich. Alles schien perfekt. Ich aß und versuchte, meinem Körper zusätzlich Nährstoffe zu geben, damit mein Baby alles hatte und gut versorgt werden würde.

Die Schwangerschaft war trotzdem gekennzeichnet von Sorgen und Ängsten. Aber: Sie endete mit einem Kaiserschnitt und einem gesunden, lauten Mädchen.

Meine Tochter war ganz anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Wir waren praktisch Feuer und Eis. Ich liebte sie doch so sehr und wollte ihr doch so gerne die Nähe geben, von der ich so geträumt hatte. Aber sie war kein Kuschelbaby. Sie war gerne für sich. Eigentlich von der ersten Minute an. Auch vier Jahre später ist sie immer mal zwischendurch ganz für sich allein. Sie verteilt keine Küsschen. Sie umarmt nicht viel und Liebesbekundungen kommen selten.

Diese Krankheit wird man nicht so schnell los

Das anfänglich schwierige Verhältnis zu meiner Tochter brachte mein Selbstvertrauen wieder ins Wanken. Ich begann, mich wieder mehr auf mich und meine Figur zu konzentrieren.

In der Schwangerschaft fand ich mein Aussehen noch toll und war stolz auf jeden weiteren Zentimeter am Bauch, doch nun betrachtete ich mich erneut mit Ekel im Spiegel. Ich ekelte mich plötzlich wieder vor meiner Figur. Die Magersucht holte mich erneut ein. So leicht wird man diese Krankheit nicht mehr los, wenn sie einen mal gepackt hat.

Die Konsequenzen sind hart: Meinem Kind kann ich nicht die Mutter sein, die ich gern sein will. Die Trennung von ihrem Vater war brutal, und inzwischen kann ich ihr noch nicht einmal mehr sagen, wo er sich überhaupt befindet.

Magersucht klaut so vieles im Leben. So viele Dinge, die einem erst auffallen, wenn es schon geschehen ist. Weder kann ich mit meinem Kind Fangen spielen, noch kann ich sie in der Luft herumwirbeln, geschweige denn tragen.

Nur meine Eltern haben mich nie aufgegeben. Ein besseres Zuhause könnte ich mir nicht vorstellen. Und auch keine besseren Großeltern für meine Kleine. Opa ist der Held, Oma erlaubt so viele schöne Dinge und verwöhnt sie. Ohne sie wäre ich nicht vermutlich nicht wieder aufgestanden.

Oft kann ich nicht spielen und muss mich stattdessen ins Bett legen. Einfach weil ich keine Kraft habe, um irgendetwas zu tun. Ausflüge zu zweit liegen in ferner Vergangenheit. Wenn ich gewusst hätte, wie sehr mich die Magersucht kaputt macht und wie wenig sie von meinem alten Ich übrig lässt, hätte ich niemals eine Diät gemacht. Ich bin durch die Magersucht zu einem Schatten meiner früheren Persönlichkeit geworden. Essstörungen sind mehr als eine Krankheit, sie sind brutale Zerstörer.

Ich habe nicht viele Wünsche, doch dürfte ich mir einen aussuchen, dann wäre es der Wunsch, dass meine Tochter diese Erfahrung niemals machen muss und sich selbst immer so liebt und respektiert, wie sie ist.

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